Ernährungskultur heute: Das Getreide – Etwas sehr Altes neu betrachtet (9)

Florian Reistle Koch, Diätassistent und Heilpraktiker, Weilheim

Florian Reistle
Koch, Diätassistent und Heilpraktiker, Weilheim

Durch allerlei Diäten (Paläo-Diät usw.) ist das Getreide in jüngster Zeit in manchen Kreisen in Verruf geraten: Sei es als »Dickmacher« oder als »Krankmacher«; an der Getreidekost will man wesentliche Ursachen der Zivilisationskrankheiten festmachen.

Auf der anderen Seite blickt man auf mehrere Jahrtausende weltweite Anbaugeschichte des Getreides zurück. Dabei waren die landwirtschaftlichen Methoden früher durchaus noch etwas anders. In vorchristlichen Kulturen war die Aussaat der Getreidekörner ein religiös-spirituelles Ereignis ersten Ranges, bei dem die Priester mit einem goldenen Pflug die ersten Furchen zogen. Eine ungeheure Wertschätzung für das Getreide lässt sich in diesen Zeiten feststellen. (Da mag es einem heute schon als ein merkwürdiges Gegenbild anmuten, wenn der Landwirt mit seinem 6 Meter hohen Bulldog über seinen Acker brettert und ihm das Saatgut in die Furchen jagt.) Es prägte auch jede Region der Erde ihre eigene Getreidesorte aus. In Asien wird Reis kultiviert, in Südamerika der Mais, in Afrika die Hirse und in Europa allen voran der Weizen, aber auch Roggen, Gerste sowie der Hafer.

Warum bildete das Getreide seit Anbeginn der Ackerkultur die Grundlage für die menschliche Ernährung? Betrachten wir das Getreide (als volles Korn) nach modernen ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten, so haben wir das »ganzheitlichste« Lebensmittel vor uns, das man sich nur denken kann. Hochwertige Eiweiße und Fette befinden sich im Keimling, Kohlenhydrate im Mehlkörper, in den Randschichten finden wir Ballaststoffe, Vitamine, Mineralien und Spurenelemente. Kein anderes Lebensmittel deckt derart vielseitig unseren Nährstoffbedarf.

Um so merkwürdiger ist es, dass dennoch die Weißmehlprodukte sich größerer Beliebtheit erfreuen. Ein Vergleich dazu: wenn Sie zwischen einem 10€-Schein und einem 20€-Schein auswählen können, nehmen Sie dann den 10€-Schein, weil Ihnen seine Farbe besser gefällt? – Wohl kaum! Dennoch bevorzugen die meisten Menschen die »10€-Schein-Weißmehlsemmel« mit geringerem ernährungsphysiologischem Wert gegenüber der »20€-Schein-Vollkornsemmel« mit größerem Wert!

Auch die Erscheinung des Getreides auf den Feldern kann imposant anmuten. Ausgewachsener mannshoher Roggen weist – umgerechnet in die Statik eines Turmes – einen Durchmesser von einem Meter bei 400 Meter Höhe auf.  Wobei am oberen Ende des Halmes noch die vergleichsweise schwere Ähre sitzt. Da bleibt selbst gestandenen Baustatikern die Spucke weg.

Gleichzeitig wirkt die Pflanze aber keineswegs grob oder klumpig-fest. Der schlanke Stängel ragt vertikal mit schmalen Blättern gerade nach oben. Die ästhetische Ähre bildet mit den sorgfältig angeordneten Körnern und fein differenzierten Grannen den grazilen Abschluss. Intensiv reift das Getreide im Licht und in der Wärme des Sommers, bis der heiter wirkende goldene Farbton die Reife der Getreidefelder ankündigt.

Das am weitesten verbreitete Produkt aus Getreide stellt sicherlich das Brot dar. Stellt man das Getreidewachstum dem Brotbereitungsprozess gegenüber, ergeben sich hoch interessante Parallelen. Das Wasserelement lässt zuerst die Getreidekörner keimen; das Wasser wird mit dem trockenen Mehl zum ersten Teig vermischt. Am Luftelement wächst der Getreidekeimling und betreibt die Zuckerbildung/Photosynthese; durch die Luft beginnt der Brotteig sich zu lockern und bildet kleine Luftbläschen. Durch das Wärmelelement reifen die Getreidekörner in der Wärme des Sommers; das Brot »reift« durch die Wärme des Backofens.

Wenn wir alle diese einzigartigen Aspekte des Getreides betrachten: können wir es dann immer noch als »Dickmacher« bzw. »Krankmacher« bezeichnen? Ich würde sagen: nein, auf keinen Fall!

Allerdings kann es durchaus dazu werden, wenn wir es unsachgemäß behandeln, einseitig züchten, mit Gift bespritzen, mit Chemikalien lagerfähiger machen, in Mühlen raffinerieren und insbesondere durch Hefe einem schnellen aber nur oberflächlichen Triebmittel aussetzen.

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