Fluchtgeschichten

Die üblichen Bilder aus den Flüchtlingslagern in Griechenland, Jordanien oder der Türkei, die überfüllten Flüchtlingsboote im Mittelmeer: Sie hinterlassen bei den meisten von uns – verständlicherweise – ein Gefühl der Hilflosigkeit, ja der Angst. Die Not der Geflüchteten bleibt namenlos, sie hat kein Gesicht. Wie anders, wenn wir die Schicksale einzelner Menschen kennen, dann regt sich unser Mitgefühl, wird unsere Hilfsbereitschaft geweckt. Wir wollen deshalb in loser Folge einige der zu uns Geflüchteten vorstellen und machen in dieser Ausgabe den Anfang mit einer Flüchtlingsfamilie, die seit drei Jahren in Lechbruck lebt. Es handelt sich um Mamed, Mitte fünfzig, und seine Frau Aisan, Anfang vierzig, mit ihren drei Töchtern Iman 11, Makka 9, und Madina,7 sowie dem Nesthäkchen Ibrahim, 3 Jahre alt. Sie stammen aus dem Nordkaukasus, aus Tschetschenien, einem Teil Russlands.

Viele Jahre tobte in Tschetschenien ein blutiger Krieg. Mehrfach versuchten Teile der dortigen Bevölkerung, sich von Russland unabhängig zu machen. Die Auseinandersetzungen mit russischen Truppen wurden von beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführt, wobei die Zivilbevölkerung zwischen die Fronten geriet. Richtig zur Ruhe gekommen ist Tschetschenien bis heute nicht. Es ist wieder Bestandteil Russlands, dem dortigen Ministerpräsidenten werden extrem gewalttätige Herrschaftsmethoden nachgesagt.  Etwa 1,3 Millionen Menschen leben in Tschetschenien, etwa die gleiche Anzahl ist in den vergangenen 20 Jahren ums Leben gekommen oder aus ihrer Heimat geflohen.

Foto: Familie MusajewMamed war als Maurer und Bauer auf einer Sowchose tätig, einem staatlichen Gut, das Schafzucht betrieb, seine Frau acht Jahre lang als Fliesenlegerin. Beide erarbeiteten sich ein Häuschen und bescheidenen Wohlstand ungefähr 30 Kilometer südlich der Hauptstadt Grosny. In der Zeit des zweiten Tschetschenienkrieges wurde das Haus zerstört, Mamed vor den Augen seiner Familie von der Polizei bedroht und gedemütigt. Sein ältester Sohn wurde auf der Grundlage von Ausnahmegesetzen ins Gefängnis geworfen, wo er sich immer noch befindet. Unter diesen Bedingungen beschloss Mamed, sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen und floh mit Auto und Eisenbahn über Polen nach Deutschland, wo er im Lager Zirndorf, dann Nürnberg und schließlich im Juni 2013 in Lechbruck Zuflucht fand.

In der Unterkunft, die die Familie seit drei Jahren bewohnt, teilen sich die drei Mädchen ein ca. 6 qm großes Zimmerchen. Der Sohn schläft bei den Eltern. Das Familienleben findet im ca. 35 qm großen Hauptraum des Apartments statt, vom Fernsehapparat wird ausgiebig Gebrauch gemacht. Die Wohnung wirkt geradezu mustergültig aufgeräumt, kaum glaublich, dass hier sechs Personen – darunter vier Kinder – wohnen. Die drei Mädchen gehen in Lechbruck und Roßhaupten zur Schule, jede (gute) Note wird von den Eltern mit sichtbarem Stolz zur Kenntnis genommen. Die älteste Tochter möchte einmal in einem Friseursalon arbeiten, der Jüngste wird in Kürze in den Lechbrucker Kindergarten aufgenommen. Natürlich unterhalten sich die Familienmitglieder auf tschetschenisch, aber die Töchter untereinander sprechen häufig Deutsch (vielleicht, wenn die Eltern nicht alles verstehen sollen). Mamed, der in seiner Heimat gerne angelte und auf die Jagd ging, lernt zusammen mit seiner Frau zweimal die Woche die deutsche Sprache. Beide verstehen mittlerweile ganz gut, auch wenn sie vor allem bei der Bewältigung der zahlreichen Formulare deutscher Behörden Hilfe benötigen.

Bei Mamed haben Arbeit und Krieg Spuren hinterlassen, auch wenn es ihm gesundheitlich deutlich besser als früher geht. In einem dreimonatigen Kurs in Füssen wird er mit sechs anderen Lechbrucker Flüchtlingen zurzeit auf das Arbeitsleben in Deutschland vorbereitet (Sprachkurs und Praktika). Der größte Unterschied zum Berufsleben seiner Heimat und zugleich das größte Problem ist für ihn die Tatsache, dass bei uns auch einfache Arbeitsabläufe technische Kenntnisse verlangen, die er aus seinen früheren Tätigkeiten nicht beherrscht. Aisan, die gerne kocht und bäckt, hat in einem örtlichen Betrieb einen Minijob gefunden.

Wenn sonntags die Sonne scheint, findet das Familienleben auf dem Spielplatz statt. Die große Hoffnung der Familie, die sich auch auf Nachfragen keine materiellen Wünsche zu äußern traut (eine eigene, größere Wohnung drängt sich einem förmlich auf), ist es, in Deutschland arbeiten, lernen und dauerhaft friedlich leben zu dürfen. Dabei will der Asylhelferkreis in Lechbruck sie nach Kräften unterstützen.

Christian Saling

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