Integrationsarbeit zwischen Paragrafenwust und Kleinmut

Bayerische ASYL-Politik: »INTEGRATION AUSGETRÄUMT?« – eine Veranstaltung in Peißenberg (Foto) – aus Landsberg berichtet Hermann Warth im Leitartikel (Foto: Sigi Müller)

Viele Bestimmungen behindern insbesondere die ehrenamtliche Arbeit

Foto: Hermann Warth

Hermann Warth

Seit April 2014 betreuen meine Frau und ich je nach Bedarf mehr oder weniger intensiv bis zu dreizehn Geflüchtete in Landsberg. Wir machen dabei die gleichen Erfahrungen wie Wolfgang Fischer (siehe Artikel »Ein unter Paragrafen & Ängsten begrabenes Land« in der OHA-Mai-Ausgabe, Nr. 426, Seite 10).

Im Jahr 2015 hatte die Bundeskanzlerin gesagt und dann oft wiederholt: „Wir schaffen das!“ Wen nur hatte sie gemeint mit dem »Wir«, die Ehrenamtlichen oder die Behörden? Letztere „schaffen uns, die Ehrenamtlichen“, sagte eine unserer Mitarbeiterinnen. Die Unzulänglichkeiten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind hinlänglich bekannt. Die Rahmenbedingungen für effizientere Arbeit sind nicht gut. Es herrschen Behäbigkeit (wir haben Geflüchtete, die mehrere Jahre auf das Interview warten mussten), Oberflächlichkeit (viele abgelehnte Asylbewerber erhalten Recht vor den Gerichten, die mit den schwach begründeten Ablehnungsbescheiden über Gebühr belastet werden) und Organisationsversagen (zur Anhörung zum Beispiel lud/lädt das BAMF alle angeschriebenen Asylbewerber um 8.00 Uhr morgens ein, wissend, dass nicht alle gleichzeitig angehört werden können; viele warten bis 17.00 Uhr und müssen an einem anderen Tag wieder erscheinen. So geht man mit Menschen und öffentlichen Geldern nicht um, denn die Fahrten werden bezahlt!).

Die Behörden auf Landkreisebene leisten viel, doch sie sind ganz besonders »unter Paragrafen begraben«, einem Wust von zum Teil kleinlichen Bestimmungen, die effizienteres Arbeiten behindern und die außerdem häufig geändert werden. Darunter leiden auch die vom Staat unterstützten Beratungspersonen von Caritas und Diakonie. Sie müssen immer wieder Nachschulungskurse besuchen. Das Jobcenter würde besser den Namen Rechencenter tragen. Eine Fülle von Bestimmungen zum Leistungsbereich beschäftigt eine nicht geringe Anzahl von Personen dort. Pauschalierungen würden Kapazitäten für die Kernaufgabe, nämlich Arbeitsvermittlung, freisetzen. Formulare in spröder Bürokratensprache werden in Deutschland geradezu zelebriert. Sie haben sakralen Charakter. Als Deutscher hat man mit ihnen Probleme, auf nicht deutsch Sprechende wird keinerlei Rücksicht genommen.

Also Unzulänglichkeiten, Engpässe, Hürden allenthalben. Was machen die Betroffenen damit? Sie gehen Hilfe suchend zu den Ehrenamtlichen, die ja sowieso schon genug zu tun haben mit Botschaften, Konsulaten, Rechtsanwaltskanzleien, Einwohnermeldeämtern, Sparkassen, Krankenkassen, Arztbesuchen, Gesundheitsamt, Versicherungen, Schulen, Instituten für Integrationskurse, Kindergärten, mit Wohnungssuche, Möbeltransporten, Einkaufsbegleitungen, Bewerbungenschreiben, Vorsprechen bei Arbeitgebern, Steuererklärungen, Deutschunterricht usw. usw. Wenn staatlicherseits den ehrenamtlichen Helfern immer wieder belobigend auf die Schultern geklopft wird, ist das ja schön. Hilfreicher für alle Beteiligten wäre es, wenn der Paragrafen-Dschungel durchforstet würde, wenn Formulare und Verfahrensabläufe vereinfacht, Leistungen pauschaliert und die Behörden untereinander besser kommunizieren würden. Ja, es gibt Beamte und Angestellte, die zum Telefon greifen, um einen Vorgang zu klären; es gibt aber auch solche, die die Helfer von Dienststelle zu Dienststelle laufen lassen.

Nicht nur unter Paragrafen, Formularen und Anträgen ist Deutschland begraben, sondern auch unter Ängsten, wie der deutsch-irakische Schriftsteller Abbas Khider formulierte. Warum eigentlich? Feiern 82 Deutsche in einer Wirtschaft und es kommen einige Flüchtlinge hinzu, wird das die Feier verderben? Sicher nicht. Wovor soll dann eine prosperierende Gesellschaft von 82 Millionen Bürgern Angst haben? Wir sind doch stolz auf unsere sich festigende Demokratie, auf unsere starke Wirtschaft, auf unsere abendländische Kultur, die im wesentlichen durch die klassische griechische Philosophie, das Judentum und Christentum im Sinne Jesu geformt wurde und der wir u. a. auch die Qualität unseres Grundgesetzes verdanken, um das uns so manche Länder beneiden. Was trägt dieses Erbe zu unserem Thema bei?

Da ist die Einsicht der griechischen klassischen Philosophie in die allen Menschen gemeinsame Natur, woraus erst eine offene Gesellschaft entstehen kann, ausgearbeitet von Heraklit, Platon und Aristoteles, aber schon vorhanden bei Homer. Er schrieb in der Odyssee (VI, 206): „Nein, er kommt zu uns, ein armer, irrender Fremdling, den man pflegen muss. Denn Zeus gehören ja alle Fremdling’ und Darbende an.“ Und da ist die Tragödie des griechischen Dichters Aischylos »Die Schutzflehenden«. Die höhere Gerechtigkeit (»lex aeterna« später bei Thomas von Aquin) obsiegt in dem Stück über die menschlichen Verordnungen und Gesetze und die Schutz suchenden Frauen werden von der Gemeinschaft aufgenommen. In der Thora wird immer wieder zu Gastlichkeit und Fremdenfreundlichkeit aufgerufen, am eindringlichsten in 3 Moses 19,33-34: „Hält sich ein Fremdling in eurem Lande auf, so dürft ihr ihn nicht bedrücken. Wie ein Einheimischer soll euch der Fremdling gelten, der bei euch weilt; du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ In Matthäus 25,35 spricht Jesus: „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben, durstig, und ihr habt mir zu trinken gegen. Ich war fremd und ihr habt mich beherbergt.“ Und da ist William Shakespeare, der in seinem Beitrag »Die Fremden« zum Theaterstück »Thomas Morus« zu Menschlichkeit und Mitgefühl aufruft anlässlich gewalttätiger Aufstände in London gegen Fremde und Flüchtlinge aus Flandern und Frankreich im 16. Jahrhundert. Morus nach langer Rede: „Berghoch ragt eure Inhumanität.“ Darauf die Bürger: „Ja, Herrgott, er hat Recht. Handeln wir, wie wir an uns gehandelt sehen wollen.“

Als Hermann Hesse 1946 den Literaturnobelpreis erhielt, dankte er mit den Worten: „Es lebe die Mannigfaltigkeit, die Differenzierung und Stufung auf unserer lieben Erde! Herrlich ist es, dass es so viele Rassen und Völker gibt, viele Sprachen, viele Spielarten der Mentalität und Weltanschauungen.“ Wie kleinkariert und spießig nehmen sich dagegen die »Deutschland schafft sich ab«-Sprüche mancher unserer Politiker aus: Da sollten die Bürger in die populistische Geisterbahn einsteigen und Schreckensszenarien sehen wie „durchrasste Gesellschaft“ (Edmund Stoiber), „das Boot ist voll“ (Wolfgang Schäuble) „Multikulti ist eine Brutstätte von Kriminalität“ (Erwin Huber) und „Multikulti geht nicht“ (Angela Merkel). Mit Vorurteilen, Angst und gar Feindbildern im Kopf kann man nichts aufbauen. Mir scheint, das erklärt so manches oben aufgeführte Versagen, so manche Unzulänglichkeit und Halbherzigkeit im Umgang mit Schutzsuchenden.

Statt uns von Kleinmut und Angst leiten zu lassen, sollten wir das abendländische Erbe verwalten, pflegen und fortführen. Und wir sollten dankbar für die uns gegebene Chance sein. Vor acht Jahrzehnten hatte die deutsche Gesellschaft ungeheures Leid über große Teile der Menschheit gebracht. Jetzt können wir zeigen, was in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen möglich ist, das zudem in Frieden und Wohlstand lebt. Es gibt keinen Grund, uns von Paragrafen und Ängsten begraben zu lassen.

Hermann Warth, Landsberg

 

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