Phantomschmerzen

Hans Hahn

Hans Hahn

Als ich 1952 in die »katholische Bekenntnisschule« – die Volksschule an der Haimhauser Straße in München-Schwabing – kam, war das mein erster Kontakt zur Religion, an den ich mich erinnere. Mein Elternhaus und die ganze Verwandtschaft waren zwar bayerisch-katholisch, aber nicht religiös.

Die Struktur vieler Münchner Stadtteile gleicht noch heute den eigenständigen Dörfern, welche sie vor der Eingemeindung durch die große Stadt hatten. So steht auch in Altschwabing das Schulgebäude direkt gegenüber der Kirche, was praktisch war, weil der Herr Stadtpfarrer auch der Religionslehrer war. Manchmal kam aber auch der Herr Kaplan. Da ich von Hause aus nichts wusste, fand ich den Religionsunterricht immer interessant. Um nicht aufzufallen, ging ich am Sonntag Morgen auch in die Kindermesse, wo man fast alle Klassen- und Spielkameraden traf. Mitte der fünfziger Jahre bot die Kirchengemeinde St. Sylvester uns Volksschülern die Mitgliedschaft in Jugendgruppen an. Ich wurde, wie einige meiner Klassenkameraden, Mitglied der Kath. Jugend. Außer einem städtischen Freizeitheim, einer Baracke am Biederstein, war damals nicht viel geboten für uns Kinder. So war die Jugendgruppe in den kirchlichen Räumen eine wirkliche Attraktion. Die Gruppenleiter waren Jugendliche, welche sich redlich um uns bemühten. Auf die wöchentlichen Gruppenabende freute ich mich immer. Es war eine schöne Zeit mit Radausflügen zur Jugendherberge in Benediktbeuern und auf eine Hütte des MTSV-Schwabing, bei dem unser Gruppenleiter Handball spielte.

1960 verließ ich die Volksschule ohne wirklich zu wissen, wie das Leben nun weitergehen wird. Eine Berufsvorbereiten hat nicht stattgefunden, wenn man vom sog. Werkunterricht absieht. Man ist wohl davon ausgegangen, dass wir übrig gebliebenen Volksschüler alle irgendeinen Handwerksberuf erlernen werden. Das habe ich dann auch versucht, leider mit wenig Erfolg. Schließlich bekam ich eine zweite Chance als Verwaltungslehrling bei der AOK München. Das machte mich zwar auch nicht glücklicher, aber ich hielt die drei Jahre durch. Ich habe viel gelesen in dieser Zeit.

1963 bin ich aus der Kirche ausgetreten. Sie hatte keine Antworten mehr auf meine Fragen. Gruppenabende gab es schon lange nicht mehr. Die Gruppenführer waren längst verheiratet. Die alten Klassenkameraden traf man inzwischen nur noch am Wochenende beim Baden oder im Winter beim Schlittschuhlaufen am Kleinhesseloher See. Irgendwie war ich sogar stolz darauf, ganz alleine eine Entscheidung getroffen zu haben und diese auch auf dem Standesamt an der Mandelstraße protokollieren zu lassen.

Lange Jahre spielte die Kirche keine Rolle mehr in meinem Leben. Aber ein Atheist bin ich irgendwie trotzdem nicht geworden, allenfalls ein Agnostiker. Und ganz entziehen konnte man sich der Katholischen Kirche hier in Bayern sowieso nur sehr schwer. Mein Sohn wurde zunächst nicht getauft. Aber als er dann in der Oberpfalz in die Schule kam, haben wir ihn doch noch schnell taufen lassen, damit er kein Außenseiter wird. Er sollte nicht ausgeschlossen sein von den katholischen Festen, von der Kommunion, der Firmung. Er sollte sich später selber entscheiden.

Meine Tochter wurde des Familienfriedens zuliebe gleich getauft und ist bis heute Mitglied geblieben.

Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich eine Art Hassliebe zum Katholizismus. Grund zum Ärger gab es immer genug. Unsinnige Verbote trotz AIDS, das leidige Thema Zölibat, Pius- und andere Bruderschaften u. v. a. m.

Aber daneben gab es auch Pater Nell-Breuning und die Katholische Soziallehre. Und außerdem ist diese Kirche doch ein Teil meiner bayerischen Heimat, welche ohne die prächtigen Tempel nicht vorstellbar ist.

Und deshalb leide ich ungewollt auch heute mit dieser Kirche, der ich längst nicht mehr angehöre, die aber scheinbar irgendwie Besitz von mir ergriffen hat.

Ich glaube, dass die Menschen die moralische Instanz der Jesus-Kirche brauchen, nicht die des römischen Klerus. Nein, die des jüdischen Predigers, der etwas Neues in die Welt gebracht hat. Die Liebe zum Nächsten, ja sogar zum Feind. Das braucht die Welt heute mehr denn je.

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