Weihnachten ohne Papa

Heidenore Glatz

Heidenore Glatz

Der Dezember ist ein Monat, der mich sehr nachdenklich stimmt.
Wehmütige Kindheitserinnerungen holen mich jedes Jahr wieder ein.

Als ich neun Jahre alt war, erkrankte mein Vater an einer unheilbaren Krankheit. Im Dezember verschlechterte sich sein Zustand von Tag zu Tag. Er wurde aus dem Krankenhaus entlassen, denn es ging dem Ende zu. Mir war das damals, als ich an seinem Sterbebett stand, nicht bewusst. Er sagte: „Wenn ich wieder gesund bin, machen wir einen Ausflug in die Stadt und lassen es uns gut gehen!“ Das waren die letzten Worte, die er zu mir sprach, und noch einmal streichelte er über meine strohblonden Haare.

Am nächsten Morgen stand ein Sarg auf unserem Bauernhof. Es war der 21. Dezember 1970, kurz vor Weihnachten.

Für meine Mutter und für mich brach eine Welt zusammen. Wie sollte es weitergehen mit uns beiden? Der Verlust, der Schmerz – wir waren wie gelähmt. Meine Mutter versuchte, die Tränen um ihren verstorbenen Mann vor mir zu verbergen. Sie zeigte mir ihren Kummer nicht, im Gegenteil: Sie bemühte sich, das Weihnachtsfest so zu gestalten, wie es immer war. Ich frage mich manchmal, wie viel Kraft und Überwindung es sie wohl gekostet hat. Zumal ihre Mutter im gleichen Jahr im August verstorben war und Opa kurz danach sehr krank wurde. Mit Würde und Fassung ertrug sie ihr Leid. Sie war eine liebevolle, aber auch eine starke Frau.

Das erste Weihnachten ohne Papa

Wir fuhren also Heiligabend zu meinem Opa in die nahe gelegene Kleinstadt. Unterwegs kaufte Mutter ein Tannenbäumchen. Als wir an der Bushaltestelle bei der Kirche ausstiegen, läuteten die Kirchenglocken zur Christmesse. Hand in Hand gingen wir an der Kirche vorbei. Plötzlich ließ ich Mutters Hand los, murmelte „ich gehe in die Kirche“, und schon war ich weg. Mama war zuerst sehr erschrocken, wusste aber, dass ich dort, in Gottes Haus, gut aufgehoben bin. Auch waren die Tanten und Cousinen gewiss im Gottesdienst, so dass ich nicht allein zu Opas Haus gehen musste.

Sie erzählte mir Jahre später, dass sie bitterlich weinend zu ihrem Elternhaus ging, wo Opa, auch allein, auf uns wartete. Sie habe die Kraft nicht gehabt, mir zuliebe die Christmesse zu besuchen. Für mich war es selbstverständlich, an Heiligabend in die Kirche zu gehen und dort den hohen Weihnachtsbaum zu bewundern, das Krippenspiel und die Weihnachtslieder, die vielen festlich gekleideten Menschen. Und natürlich gehörte dazu auch das Weihnachts­päckchen der Kirchengemeinde, das wir Kinder uns nach dem Gottesdienst abholen durften. Mit meiner Tante ging ich nach dem Gottesdienst zu Opa nach Hause.

Wir aßen gemeinsam zu Abend und danach erklang ein Glöckchen: Das Christkind war da gewesen. Im Zimmer leuchtete hell das schön geschmückte Bäumchen. Darunter lagen ein paar Geschenke. Alles war wie jedes Jahr – und doch nicht. Vater fehlte, er war nicht mehr da und er würde auch nie mehr kommen. Erst da wurde mir bewusst, wie grausam der Tod ist. Mama tröstete mich: „Papa geht es gut, er muss nicht mehr leiden. Er schaut von da oben auf uns herab. Er möchte nicht, dass wir traurig sind, denn er begleitet uns jeden Tag, auch wenn wir ihn nicht sehen.“ Als Kind konnte ich die tröstenden Worte nicht so richtig verstehen: Warum musste mein Papa in den Himmel? Sollte ich nie mehr mit ihm spielen oder spazieren gehen?

Es war das traurigste Weihnachtsfest meines Lebens, aber das wurde mir erst viele Jahre später bewusst. Damals hat Mama alles für mich getan, um mich vor Traurigkeit und Ängsten zu bewahren.

Ein paar Wochen später sind wir zu Opa umgezogen. Mit seiner liebevollen, ruhigen Art übernahm er praktisch die Vaterrolle im Haus. Ich liebte ihn abgöttisch. Dank Mama und Opa hatte ich trotz allem eine schöne, behütete Kindheit und Jugend.

Immer an Weihnachten muss ich ganz innig an meine Eltern und Großeltern denken, die Menschen, die mich ein Stück weit im Leben begleitet haben – an ihre Liebe und Fürsorge, an all das Gute, das sie mir geschenkt haben. Jedes Weihnachtsfest mit meinen Kindern und mit meinem Mann ist deshalb für mich wirklich ein Fest der Freude und der Liebe, hinblickend auf die Geburt Jesu, und vor allem auf ein Leben voller Dankbarkeit.

Heidenore Glatz
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