Frühling in Athen – eine Chance für Europa?

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Jürgen Arnold

Die neue griechische Regierung zeigt sich selbstbewusst und fordert soziale Gerechtigkeit für ihr Land

Seit dem Fall der Militärjunta 1974 wird Griechenland im steten Wechsel von den Parteien ND und der POSOK bis an den Rand des Abgrunds regiert: Die Volkswirtschaft ist geschrumpft (seit 2008 noch einmal um ein Viertel), die Arbeitslosenrate lag Ende 2014 bei 26%, 70% davon sind Langzeitarbeitslose ohne jede soziale Absicherung. Die beiden Parteien machten den öffentlichen Dienst zu einem Selbstbedienungsladen. Korruption bei Großprojekten (Olympiade 2004) und Günstlingswirtschaft verteilten die Gelder in unvorstellbarer Weise von unten nach oben. Obwohl die Verhältnisse mit ihrer Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten sich immer mehr denen eines afrikanischen Landes annäherten, blieb Kritik aus den Hauptstädten Europas aus, solange die Regierung nur getreu dem Sparprogramm der Troika von ihren Darlehen die Banken rettete. Dass bei der Bevölkerung von diesen Darlehen nur wenig ankommt, das kümmerte die »Reformer« in Berlin und Brüssel nicht. Die von der Troika geforderten »Reformmaßnahmen«, die u. a. immer mehr Arbeitslose schaffen, werden als unvermeidliche Kollateralschäden hingenommen. Keiner fragt aber die reichen Griechen, die in London, München und Berlin Luxusimmobilien kaufen oder ihre Gelder in Schweizer Banken bringen, ob sie ihr Geld in Griechenland versteuert haben.

Eigentlich hätte man daher lauten Beifall aus Berlin, London und Paris erwarten können, als im Januar mit Syriza eine Regierung gewählt wird, die sich für größere Steuerehrlichkeit, gerechtere Verteilung der Steuer und für die Bekämpfung von Korruption und Klientelsystem einsetzt. Aber erstaunlicher Weise ist das Gegenteil eingetreten. Schon vor der Wahl wurde in die Freiheit des Wahlverhaltens der Griechen eingegriffen, indem man zu Wiederwahl des »bewährten Systems« aufrief und vor Syriza warnte. Nach der Wahl ließ sich der deutsche Finanzminister (die selbsternannte »schwarze Null«) hinreißen, die Griechen zu bedauern für die Regierung, die sie gewählt haben. Im Spiegel spricht Jan Fleischhauer von einer „Reinfantilisierung der griechischen Wähler“ und legt das griechische Volk mal eben auf die Couch. „Der Vorgang ist aus der Psychoanalyse gut bekannt: Wenn sich Menschen der Wirklichkeit nicht mehr gewachsen fühlen, reagieren sie auf die Zumutungen der Gegenwart mit Trotz und Abwehr. Sie ziehen sich in eine imaginäre Welt zurück, in der ein Wutanfall genügt, um die Autoritäten zum Einlenken zu bewegen.“ Die Woche darauf schäumt er erneut über die „neomarxistische Partei“ Syriza und warnt vor „Fanverhalten“ von Seiten derjenigen die „Che Guevara verpasst haben, weil sie zu jung waren“. Denn, so Fleischhauer, „die Aufrührer in Athen verfügen statt über Sturmgeschütze nur über Klingelbeutel“. Grund der Aufregung von Fleischhauer ist die Popularität des Buches »Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise« von Yanis Varoufakis, Wirtschaftsprofessor und Finanzminister von Griechenland. Der Inhalt ist absolut systemimmanent, ein Vorschlag, dem Kapitalismus durch Überwindung der Banken-, Investitionskrise und seinen sozialen Schieflagen zu einem menschlicheren Antlitz zu verhelfen. Selbst ein solcher Versuch wird heute schon als Angriff auf das System als solches wahrgenommen. In der SZ vom 07.03.2015 beschäftigt sich der Autor Piper mehr mit der Person Varoufakis als mit seinen Thesen und wirft ihm vor: „Der Vorschlag ist die Idee eines Mannes, der eigentlich viel Radikaleres will, …“. Nun ist Varoufakis zwar spitzzüngig, aber es ist zutreffend, wenn er den Umgang mit Griechenland mit mittelalterlicher Medizin vergleicht: „Damals wurden Aderlässe verschrieben, die die Kranken oft noch kranker machten, worauf sie erneut zur Ader gelassen wurden“. Ein Aufschrei aus Berlin folgt auch diesem sachkundigen Vergleich. „Frechheit darf nicht siegen“, empört sich der Fraktionsvorsitzende der CDU, Kauder, über so viel Kritik am deutschen Austeritätskurs. Der Satz zeigt, dass es weniger um Inhalte geht, als um Empörung darüber, dass die griechische Regierung nicht mehr als Bittsteller wie ihre Vorgänger ankriecht, sondern soziale Gerechtigkeit für ihr Land sehr selbstbewusst einfordert. Dass man hierzulande lieber um einen »Stinkefinger« des Ministers gegen Deutschland diskutiert, der sich dann als Politsatire entpuppt, zeigt, wie sehr man meint, von Inhalten der Politik ablenken zu müssen.

„Gierige Griechen, sparsame Deutsche“– so nach wochenlanger Gehirnwäsche die deutsche Volksmeinung. Immer wenn so deutlich die nationale Karte gezogen wird, lohnt es sich, die sachlichen Grundlagen hinter emotionalem Geschrei zu betrachten.

Afrikanische und arabische Ökonomien wurden erfolgreich kaputt konkurriert

Mitglieder der sogenannten Troika sind der IWF, die EU-Kommission und die EZB. Deren Interessen sind seit Jahrzehnten sehr deutlich in Afrika zu verfolgen. »Abendländische Werte« wird man dabei nicht finden. Die EU und vorneweg Deutschland haben mit überlegenen Unternehmen und subventionierten Waren die traditionellen afrikanischen und arabischen Ökonomien erfolgreich kaputt konkurriert und den betroffenen Menschen ihre Lebensgrundlage genommen. Dies geschah z. B. durch den Export von Hühnchenflügel und Schlachtabfällen aus Niedersachsen in die Märkte Zentralafrikas. Heimische Unternehmen, insbesondere der verarbeitenden Gewerbe (z. B. der Fischindustrie im Magreb) wurden ruiniert. Lebensmittel und fruchtbare Böden (Palmöl-Plantagen in der Elfenbeinküste, Rosen aus Kenia, Erdnüsse aus dem Senegal usw.), Fischfanggebiete und Rohstoffvorkommen dienen exklusiv der Verwertung durch westliche Gesellschaften und sind der örtlichen Bevölkerung als Lebensgrundlage entzogen. „Politisch sind daher“ – wie Prof. Arian Schiffer-Nasserie in seinem Artikel »Flüchtlingspolitik ein Jahr nach Lampedusa« schreibt – „die Flüchtlinge eine notwendige Folge westlicher Weltordnung. Die einzige Antwort auf dieses Phänomen, das der Westen selbst zu verantworten hat, ist eine Mauer der Abwehr, die weit mehr Tote als die deutsche Mauer gefordert hat.“

Genau diese Weltordnung fühlt sich jetzt im südlichen Vorposten von Europa bedroht, wenn dort gerechtere Verteilung eingefordert wird. Syriza hat es somit mit einem übermächtigen Gegner zu tun, der ebenso geschickt wie verlogen die nationale Karte spielt, wenn es in Wahrheit um die soziale Frage geht. „Für Europa bedeutet die Regierung Tsipras ein Hoffnungszeichen gegen den Vormarsch rechter Parteien. Für Griechenland beginnen nun die Mühen der Ebene – mit echten Reformen“ (Nils Kadrizke in »Le Monde diplomatique«, vom Februar 2015). Auch wenn von den Wahlversprechen Syrizas viele Abstriche gemacht werden müssen, so darf man sehr auf den Erfolg dieser Reformer hoffen, sie könnten SPD und GRÜNE zum Nachdenken über ihre Wurzeln anregen und den LINKEN ein Vorbild sein. Sollte im Frühling die neoliberale Regierung Spaniens von der Bewegung »Podemos« ab­gelöst werden, dann würde es im neoliberalen Europa etwas wärmer werden. Bei einem Scheitern der Vernunft ist jetzt schon klar, dass die Rechte einen ungeheuren Auftrieb in Europa bekäme. Hoffen wir, dass dies uns erspart bleibt.

Jürgen Arnold, Oberhausen
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1 Kommentar

  1. Lieber Herr Arnold,

    es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen zu dem Artikel über Griechenland im OHA 401 zu gratulieren.
    So eindeutig und luzid habe ich die Zusammenhänge noch selten gelesen. Das System des neoliberalen Kapitalismus fühlt sich in der Tat von Syriza angegriffen und reagiert entsprechend. Auch die meisten Medien hierzulande wirken dabei fleißig mit, sind sie doch i. d. R. Sprachrohr ihrer Eigentümer. Im Fall Griechenland kann man wohl von einer Kampagne sprechen, angeführt von der Zeitung mit den großen Buchstaben.
    Dass überhebliche herabblicken auf die sog. Südländer erinnert an schlimme Zeiten, als die Welt noch am deutschen Wesen genesen sollte.
    Das gefährdet in erheblichem Maße die Völkerverständigung, die uns doch eine 70jährige (fast) kriegslose Periode gebracht hat. Wie die Völker in Europa zusammengewachsen sind, kann man derzeit in Frankreich beobachten, wo sich die ehemaligen „Erbfeinde“ in rührender Weise um die Hinterbliebenen des Flugzeugabsturzes kümmern.

    In unserem Land sind die Menschen leider von den täglichen „Erfolgsmeldungen“ auf dem Arbeitsmarkt geblendet. Die Armutsquote von rd. 15 % verschwindet hinter dem Jubel über immer neue Beschäftigungsrekorde. Um welche Arbeit es sich dabei handelt und ob die Menschen davon leben können, interessiert nicht.

    Ich teile Ihre Sorge, dass europaweit der rechte Rand gestärkt wird, aber auch Ihre Hoffnung, dass Bewegungen wie Podemos in Spanien zur Beendigung des typisch deutschen Austeritätswahns führen könnte.

    Mit freundlichen Grüßen

    gez. Hans Hahn

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