Fukushima: Ein Jahr danach

Fukushima Titelbild

Soll das Unfassbare aus dem Kollektivbewusstsein getilgt werden? (Grafik: Jürgen Müller)

Explodierende Reaktorblöcke in einem hochindustrialisierten Land? Japans SuperGAU hat die Beherrschbarkeit der Atomenergie als »Märchen« entlarvt.

Die mächtige Atomlobby und ihre Politiker haben uns stets eingeredet, sowas wie in Tschernobyl könne in modernen Atomkraftwerken westlicher Prägung überhaupt nicht passieren. Es ist doch passiert. Hier der Versuch einer Bestandsaufnahme. Wie dabei die Mentalität der vom Unglück betroffenen Menschen auf dieser »Glücksinsel« missbraucht wird, zeigt folgendes Beispiel:

Unmittelbar nach der Atomkatastrophe wurden die Menschen in der Präfektur Fukushima einer Art »Gehirnwäsche« unterzogen. Unter dem Begriff »Information« brachte der angesehene japanische Wissenschaftler und Medizinier Shunichi Yamashita ganz ernsthaft eine beruhigende Botschaft unters Volk: mit abstrusen Behauptungen wie Cäsium sei völlig ungefährlich und Strahlenbelastungen unter 100 Millisievert hätten keinerlei Gesundheitsschäden zur Folge, versuchte er zunächst die sich nach guten Nachrichten sehnenden Menschen einzustimmen. Erkrankungen würden ja nicht durch die Strahlung selbst, sondern nur durch eine »Strahlenphobie«, also durch die „unbegründete“ Angst vor Strahlung entstehen. Viel zitiert ist sein Satz aus einer Bürgerversammlung am 20. März 2011: „Strahlenschäden kommen nicht zu Menschen, die glücklich sind und lächeln. Sie kommen zu Menschen, die verzagt sind.“ – Eine solche Verarschung von Bürgern in Not ist teuflisch und genial zugleich; denn wer so zu den Menschen spricht, die auf einer »Glücksinsel« leben, braucht seine Überzeugungskraft nicht anzuzweifeln. Die Menschen, zu denen er spricht, neigen ja ohnehin zu dem Glauben, dass man sich niemals irgendwelche Sorgen um irgendwas machen muss, weil man eben auf einer »Glücksinsel« lebt.

Wir sollten uns dennoch nicht nur über die hier beschriebene menschenverachtende Art des Umgangs mit den Bürgern in Japan empören, sondern mal darüber nachdenken, welche »Gehirnwäsche« die politisch (Un-)Verantwortlichen uns mit ihren korrupten Wissenschaftlern und Medizinern verabreichen würden, wenn Gundremmingen, Cattenom, Temelin usw. in die Luft flögen.

Sigi Müller

 

[notice]In dem folgenden Artikel von Dr. Erhard Seiler schreibt er u. a. über den »Zustand der Reaktoren« in Fukushima und der »Verseuchung der Umwelt« durch die weltweit übliche Verdünnungs­strategie mit »Strahlenmüll«.[/notice]

Die Reaktoren

Der Reaktorunfall von Fukushima ist aus den Medien weitgehend verschwunden.

Zum Jahresende wurde allerdings die Erfolgsmeldung verbreitet, die Reaktoren seien im sicheren Zustand des sogenannten »cold shutdown«, also kalt und abgeschaltet. Dies war jedoch eine ungerechtfertigte Behauptung, denn unter »cold shutdown« versteht man den Zustand eines unbeschädigten Reaktors einige Zeit nach der Abschaltung.

Wie es in den Reaktoren aussieht, ist allerdings unbekannt; von Zeit zu Zeit hört man beunruhigende Meldungen über steigende Temperaturen, worauf die Betreiberfirma abwiegelt, es seien nur die Temperaturfühler defekt. Im November wurde gemeldet, es seien im Reaktor 2 radioaktive Spaltprodukte (Xenon 133 und 135) gefunden wurden, die nur eine sehr kurze Halbwertszeit haben und daher eindeutig fortlaufende Kernspaltungsprozesse (sogenannte Rekri­ti­­kalität) anzeigen. Das kann natürlich auch die steigenden Temperaturen erklären und bedeutet, dass der Reaktor nicht wirklich abgeschaltet ist. Seit November haben wir davon nichts mehr gehört, was aber nur bedeutet, dass keine Nachrichten mehr darüber verbreitet werden.

Ein weiterer Grund zu Sorge ist immer noch das Brennelementelager von Reaktor 4, das bekanntlich stark beschädigt ist und möglicherweise weitere Erdstöße nicht überstehen kann.

Die Verseuchung der Umwelt

Es gibt unter Kerntechnikern den Spruch: »Man nimmt vom Verdünnungsfaktor Kredit«. Damit ist gemeint, dass man den gesamten radioaktiven Dreck, der bei Unfällen oder auch im Normalbetrieb entsteht, nur genügend verdünnen, d. h. mit unverschmutztem Material vermischen muss, bis die Radioaktivität nicht mehr auffällt.

Dieses Spiel, das auf der ganzen Welt betrieben wird, ist unverantwortlich, weil die Radioaktivität ja nicht verschwindet, sondern mehr Menschen damit verseucht werden, wenn auch in geringerer Dosis. Nach den üblichen Annahmen der Strahlenbiologie (lineare Dosis-Wirkungsbeziehung) bedeutet das, dass der gleiche Gesamtschaden angerichtet wird.

Nach diesem Prinzip wird vorgegangen, wenn z. B. in Bayern Wildschweine, die noch immer von Tschernobyl stark verseucht sind, in den Tierkörperbeseitigungsanstalten mit Tonnen gering belasteter »Rohware« anderer Tiere vermischt und »sterilisiert« werden. Das auf solche Weise gewonnene Tiermehl gelangt dann zur thermischen Verwertung in Zementwerke und Verbrennungsanlagen. Oder wenn in Japan verstrahlter Sand und Kies an 200 Firmen geliefert wird, um damit Beton herzustellen, natürlich nach Vermischung mit unverstrahltem Material. Oder wenn Kanada alte Dampferzeuger seiner Atomkraftwerke nach Schweden schaffen lässt, wo sie mit anderem Schrott zu Baustahl zusammengeschmolzen werden sollen.

Sinnvoller wäre es zweifellos, wenn man schon einmal die Radioaktivität in konzentrierter Form hat, diese Materialien von der Biosphäre zu isolieren, so gut das möglich ist.

Durch die immer großräumigere Verteilung der Radioaktivität steigt letztlich natürlich die sogenannte Hintergrundstrahlung in der Umwelt an, die immer als Maßstab für die Harmlosigkeit von zusätzlicher Strahlung dienen soll. Es ist anzunehmen, dass diese Hintergrundstrahlung z. B. durch das aus Granit und ähnlichem Gestein ausgasende Radon seit dem Beginn des Atomzeitalters merklich angestiegen ist; leider ist es mir nicht gelungen, darüber irgendwelche brauch­baren Daten zu finden.

Die Erhöhung der Grenzwerte löst keine Probleme

In jedem Fall gibt es für die Politik eine probate Maßnahme, mit solchen Problemen umzugehen: Grenzwerte erhöhen. Genau das hat man in Japan gemacht; der erlaubte Grenzwert wurde von einem auf 20 Millisievert
pro Jahr angehoben, und zwar für Erwachsene wie für Kinder. Damit wird nun wirklich eine erhebliche Zunahme von Krebserkrankungen in Kauf genommen.

Nach der offiziellen, sicher zu optimistischen Abschätzung würde das einer Krebswahrscheinlichkeit von 1:500 entsprechen; für junge Mädchen bedeutet das allerdings eine Wahrscheinlichkeit von 1:20!

Erhard Seiler

Erhard Seiler

Man hat hier wieder einmal ein klassisches Beispiel, wie für ökonomische Vorteile die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel gesetzt wird. Japan, das bisher die längste Lebenserwartung der Welt und eine blühende Wirtschaft aufzuweisen hatte, wird wohl beides auf lange Zeit verlieren. Das Schicksal dieses Landes ist eine Warnung für den Rest der Welt, sei es Deutschland, Frankreich, Iran oder die USA (wo gerade der Bau neuer Atomkraftwerke genehmigt wurde). Atomkraft ist nicht verantwortbar!

 

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Über den Autor:

Dr. Erhard Seiler ist Physiker und war wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Physik (Werner-Heisenberg-Institut) in München.[/important]

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