
Personen: Amalia Rehbein (82) und Harald von Thon (89) in der Cafeteria der Seniorenresidenz Augustinum bei Dießen
H: (kommt zum Tisch, an dem Amalia sitzt) Guten Morgen, Amalia. (küsst sie auf die Stirn und setzt sich zu ihr)
A: Guten Morgen. Du bist heut spät dran, Harald.
H: Ja, weil die 9-Uhr-Nachrichten zu interessant waren.
A: Und ich bin mit der Süddeutschen noch nicht ganz durch. (schupst sie von sich weg)
H: Ja, Amalia, es geht wieder einmal drunter und drüber zu auf der Welt.
A: Ach, Harald, jetzt sind wir zwei schon so alt, und haben trotzdem keine schlüssige Antwort darauf, warum das so ist.
H: Haben wir leider nicht, Amalia. Wir müssten wahrscheinlich sehr weit in unserer Geschichte zurückgehen, um den Beginn der unguten Entwicklung des Menschen zu finden.
A: Also nicht bis Adam und Eva.
H: Sicher nicht. Aber bestimmt etwa zehntausend Jahre, also bis in die Zeit, in der sich in Teilen der Welt die ersten Herrschaftsgeschlechter herausbildeten.
A: (mit überraschtem Gesicht) Mann, Harald, jetzt hast du leicht und locker ein Basiselement aus dem Hut gezaubert, das vermutlich ganz wesentlich für die Probleme der Menschheit verantwortlich ist. Herrschaft, Harald, das klingt ja nicht nur in meinen Ohren höchst ungut, nein, Harald, Herrschaft war wahrscheinlich von Anfang an ein hochgradig negatives Element in den menschlichen Gesellschaften.
H: Ach, Amalia, ich habe das ja nur so daher gesagt, aber du hast ganz richtig erkannt, wo sich der vielleicht größte Teufel im Zusammenleben von uns Menschen versteckt. Und, Amalia, wir Menschen werden heute von so vielem beherrscht, was ohne Ausnahme auch Unterordnung nach sich zieht, und somit auch die Teilung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte.
A: Und diesen Zustand haben wir im Grunde auf fast allen Ebenen, mit denen wir es zu tun haben. (zieht die Zeitung wieder zu sich heran) Ja, Harald, und so musste ich auch heute wieder dem Wirtschaftsteil der Süddeutschen entnehmen, dass letztlich die gesamte Welt vom Kapital beherrscht wird. Ganz automatisch passiert das, das weißt du ja besser als ich. Dieser Vorgang läuft allerdings nur zugunsten von einigen wenigen, ansonsten aber zu Lasten der Mehrheit und der Natur.
H: Du, die Herrschaft des Kapitals ist inzwischen vielleicht die schlimmste Herrschaftsform, der wir ausgeliefert sind.
A: Ja, und gerade in diesem Fall passt, was du vorhin angesprochen hast. Herrschen ist eben nur möglich, wenn auch Unterordnung vorliegt; also wenn sich Menschen aus Bequemlichkeit bzw. Trägheit dominieren lassen, wenn sie nicht kämpfen wollen. Und so ist es leider auch möglich geworden, dass sich ein großer Teil der Menschheit auf einen die Natur zerstörenden Weg drängen ließ.
H: Amalia, wenn ich dich jetzt richtig verstanden habe, bist du der Ansicht, dass das große Dilemma, in welchem sich die Menschheit derzeit befindet, letztlich von einigen wenigen ausgelöst wurde.
A: Ja, Harald, einige wenige haben dafür gesorgt. Ja, und im Übrigen meine ich auch, dass Putin nur möglich geworden ist, weil zu viele Russen nicht weiter als bis zum nächsten Tag denken wollten.
H: Im Grunde, Amalia, gilt das überall dort, wo sich gewalttätige Herrschsucht durchgesetzt hat.
A: Ja, Harald, wenn sich Schlechtes einstellt, liegt das auch immer an zu wenig Widerstand dagegen, es liegt nicht zuletzt an zu bequemen Köpfen.
H: Manchmal, Amalia, breitet sich Herrschaft aber auch dann aus, wenn Widerstand gegeben ist. Meine Urenkelin Sarah hat erst vor Kurzem mordsmäßig darüber gewettert, dass sie jetzt ein Handy haben muss. Bis zu ihrem dreizehnten Geburtstag hatte sie sich hartnäckig dagegen gewehrt, sie fand es geradezu albern, wenn sie die Leute damit herumspielen sah. Aber ihr Schulwechsel machte das Handy notwendig, weil die neue Schule zum Teil darauf abgestellt ist. Ja, Amalia, und dann musste sie auch noch zur Kenntnis nehmen, dass das tägliche Leben immer häufiger den Handy-Besitz erforderlich macht.
A: Ja, Harald, wir zwei können ohne so ein Gerät gut auskommen, weil wir hier mit allem versorgt werden. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass außerhalb unserer Mauern das tägliche Leben ohne Handy kaum mehr zu managen ist.
H: Ja, Amalia, eine neue Herrschaftsform hat sich in den letzten Jahrzehnten ausgebreitet.
A: Eine übermächtige technische Herrschaftsform, Harald, die die Menschen nicht nur beherrscht, sondern auch total abhängig macht und somit ein weiteres Stück natürliche Lebensart ausradiert.
Guggera
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