Nebelkerzen in der Postdemokratie

Herwarth Stadler

Herwarth Stadler

… es stand im OHA vom März[1] und August 2010

Die OHA-Redaktion machte uns im August mit dem neuen Begriff »Postdemokratie« bekannt und mir fielen die vielen ergänzenden Recherchen zu meinem März-Artikel »Hat der Marsch in die Plutokratie längst begonnen?« ein. Denn die seit über zwei Jahren währende Finanzkrise schafft unverwischbare Spuren in unser aller Denken. Die veröffentlichte Meinung wirft im engen Verbund mit den Verantwortlichen der politischen und wirtschaftlichen Meinungsmacher geistige Nebelkerzen in Form von Schlagwörtern wie alternativlos und systemrelevant um sich.

Alternativlos heißt es stets, wenn die Machtinhaber jede Diskussion über mög­liche oder scheinbar unmögliche Alternativen abwürgen wollen. Die Träger der veröffentlichten Meinung verstecken Alternativbeiträge dazu gern in ihren elektronischen Ausgaben,[2] oder man muss sich selbst auf den mühevollen Weg der Recherche machen.

Systemrelevant bedeutet auf jeden Fall, dass die Gewinne nur privatisiert und die Verluste immer sozialisiert werden, also alle Steuerzahler für sie geradestehen müssen; wir erleben, dass es in diesem Jahrzehnt laufend geschehen ist und noch immer geschieht.

Die Besitzer[3] der Billionen Finanzmittel insgesamt haben fast nichts verloren in der Megakrise, nur sind einige Einzelbeträge in andere Hände gewandert; ja sie können es ruhig abwarten, dass weltweit die Staatskassen für die übernommenen Bürgschaften über weitere Billionen €/$ herangezogen werden und dadurch die von ihnen gewährten Kredite an Staaten sichere Finanztitel bleiben.

In einer grundlegenden Untersuchung über den deutschen Staatskredit- und Finanzmarkt und seine Entwicklung in den zurückliegenden 20 Jahren seit 1990 wurde nachgewiesen, dass schrittweise die Einnahmenseite des Finanzministeriums durch Steuergeschenke an das Großkapital verkürzt und das öffentliche Kreditvolumen in ähnlichen Größenordnungen ausgedehnt wurde, weil die notwendigen Einnahmen fehlten:

  • Seit 1997 fehlten jährlich durch die großzügige Abschaffung der Vermögenssteuer bis zu 25 Mrd.€;[4]
  • die Erbschaftssteuerreform von 2008 verzichtet pro Jahr auf über 20 Mrd. €, nachdem die Freibeträge exorbitant (auf 500 000) erhöht wurden, von denen nur die reichen Erben profitieren;
  • die Körperschaftssteuerreform von 2002 (Absenkung von 40% auf 25% – und es soll noch weniger werden, wenn es nach der FDP ginge) erspart den Unternehmen jährlich zirka 15 bis 30 Mrd. €;[5]
  • die Absenkung des Einkommens-Spitzensteuersatzes von 53% auf 42% erhöht seit Jahren die jährlichen Einkommen der Großverdiener um weitere 15 Mrd. €;
  • durch Steuerhinterziehung gehen jährlich etwa 30 Mrd. € der Habenseite im Finanz-Ministerium verloren[6]
  • die Pauschalierung der sog. Abgeltungssteuer auf Zinseinnahmen auf 25% erhöht die arbeitslosen Einkommen der Reichen um mehr als 12 Mrd. € jährlich, weil sie keinen ihrer Einkommens­höhe angemessenen Steuersatz (bis zu 42%) zahlen müssen;
  • die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen[7] der Versicherungskonzerne und Banken brachte einmalig eine dreistellige Milliardensumme diesen Kapitalsammelstellen ein und weiter laufend Steuervergünstigungen durch Abschreibungen.
  • Aufsaldiert sind es inzwischen jährlich mehr als 125 Mrd. €, die dem Fiskus fehlen, und für die zwei Jahrzehnte seit 1990 mit mehr als 1 370 Mrd. €, was 80% der aufgehäuften Staats­schulden der deutschen öffentlichen Hände entspricht. Für das verbleibende Fünftel wurden gemeinnützige Investitionen finanziert.

Inzwischen ist akribisch dokumentiert, wie seit 2003(!) mit geschickter Beteiligung der Deutschen Bank unter Ackermanns Vorstandschaft die HypoReal­Estate-Bank (HRE) als ehemalige Tochter der bayerischen HypoVereinsbank zur »systemrelevanten« Bank ausgebaut wurde, was uns Steuerzahler bereits über 100 Mrd. € gekostet hat (als Sondervermögen/-schulden außerhalb des Staatshaushaltes geführt und versteckt).

Zum Stichwort Lobbyismus in Deutschland fand ich die neueste Quelle: Thomas Wieczorek, Die geplünderte Republik. 2010, S. 193. Dort ist die Liste der »Top Ten« der Firmen[8] und Verbände[9] veröffentlicht, die in mehr als einem (bis zu 5) Ministerium[10] den Fuß in der Türe haben. Dass zahlreiche Bundestagsabgeordnete in Aufsichts- und Beiräten großer AGs Sitz und Stimme haben, wird in den Handbüchern und auf der Internetseite des Bundestages nachprüfbar dokumentiert, auch wenn sie als für über 3000 bzw. über 7 000 €uro Honorar in Ver­bands­versammlungen als Redner auftreten. Hier werden die »informellen« Fäden gezogen und gepflegt, auch wenn sie als Minister[11] keine solchen Nebenämter mehr bekleiden dürfen. Gelegentlich outen sie sich in den Medien, indem sie sich zu (un)sozialen Themen äußern.[12]

Da wir eine repräsentative Demokratie im Grundgesetz festgeschrieben haben, hält natürlich der Bundestag nichts von Volksbefragungen auf seiner Ebene – für den kommunalen Bereich bis zur Landtagsebene haben die jeweiligen Länder in ihren Verfassungen andere Entscheidungen möglich gemacht. Was die bayerische Regierung jedoch versucht auf dem Verordnungsweg an Manipulationen („wir haben die Macht dazu“) durchzusetzen, verdeutlicht für Bayern aktuell das Raucherschutzgesetz und das Volksbegehren dazu.

Für die Rettung der Geldvermögen der Reichen 10 Prozent der steuerpflichtigen über 17 Jahre alten Bundesbürger[13] hat die Bundesregierung und die frühere Große und die regierende schwarzgelbe Koalition viele hundert Milliarden €uro bereits eingesetzt, aber hereinsparen[14] will sie es überwiegend bei Niedriglöhnern,[15] der unteren Hälfte des Mittelstands und den Rentnern sowie den Hartz IV-­Empfängern und -Aufstockern.[16]

Geradezu lächerlich sind die stereotypen Begründungen dafür, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten würden, was noch nie bewiesen werden konnte. Aber die Ausdehnung des Niedriglohnsektors durch die Zeitarbeitsfirmen ist signifikant und der Abbau der unteren Angestellten- und Facharbeitsplätze in der Großindustrie und bei den Dienstleisterkonzernen und der Ersatz von Vollzeitarbeitsplätzen durch Teilzeitkräfte ist inzwischen nicht mehr zu leugnen, sondern rechnerisch erwiesen.[17]

Dass die Verteilungsquoten des Volkseinkommens zugunsten der Vermögensbesitzer verschoben wurden, ist auch inzwischen erwiesen:

Die so genannte Lohnquote als Anteil am Volkseinkommen ist vom Jahr 2000 bis 2008 um rund 10-Prozent-Punkte gesunken; es fehlen deshalb auf dem Binnenmarkt zirka 600 Mrd. €, dem entsprechend schwächelt dieser in Deutschland, kommt nicht in Schwung als Stütze der Konjunktur. Denn die Lohn­quote ist die Basis des Binnenmarktumsatzes[18] während der Anteil der Unternehmen und Vermögen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeitgleich von 28% auf 37% angestiegen ist, was fast völlig der Geldvermögensbildung zugute gekommen ist, denn um fast denselben Betrag stieg die allgemeine Verschuldung.[19] Geld anzuhäufen ist nur dann sinnvoll, wenn es ertragreich angelegt werden kann. Und damit wären wir bei dem entscheidenden Systemfehler des neoliberalen Kapitalismus; das jedoch ist ein anderes Thema.

Hätte man nicht mit dem Trick der Nebelkerze »Systemrelevant« verhindert, dass spekulative Billionen im Konkurs vernichtet worden wären, müssten wir nicht vor der weiter schwelenden Finanzmarktkrise Angst haben. In Deutschland wäre mit den Banknetzen der Sparkassen und der Genossenschaftsbanken der Geldkreislauf nicht schlechter in Gang geblieben als mit den Rettungs-­Unsummen zugunsten der Groß- und Landesbanken.

Die Entwicklung zur postdemokratischen Republik erscheint mir in unserem Grundgesetz-Modell einer repräsentativen Demokratie bereits recht weit fortgeschritten hin zu einer Pluto(demo)kratie, denn

  • der tradierte grundgesetztreue Mantel wird zelebriert und gepflegt aufrechterhalten, um das Volk still zu halten,
  • das Großkapital führt aus dem Hintergrund die Regie über Mittelsmänner wie (als »pars pro toto« zwei Namen): Josef Ackermann als Regierungsberater, Friedrich Merz als ehemaliger Fraktionsvize der CDU, der in mehr als anderthalb dutzend Aufsichts- und Beiräten, Vorständen von Vereinigungen etc. saß.
  • vier machtbesessene, größenwahnsinnig gewordene Manager des Energieoligopols wagen es in jüngster Zeit[20] sogar ultimative Forderungen an die Bundesregierung zu stellen, in dem sie die Abschaltung der AKWs androhen – über deren Laufzeitverlängerung sie mit der Regierung verhandeln mit dem Ziel, die geplante Brennelemente-Steuer zu Fall zu bringen. Benötigen die großen Vier ihren AKW-Strom gar nicht? – oder können sie dann die Ersatzlieferungen aus dem EU-Raum blockieren, weil sie zu wenige grenzüberschreitende Leitungen vorhalten?

Wann erkennt das Volk das Fiasko mit »des Königs neuen Kleidern«?

Herwarth Stadler

 

 

 

Quellenangaben / Hinweise


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  1. Nr. 3, S. 4 »Hat der Marsch in eine Plutokratie längst begonnen?« und Nr. 8, S. 1
  2. z. B.: sueddeutsche.de, Handelsblatt.com, Spiegel Online, etc.
  3. 2009 gab es weltweit 51000 Millionäre mehr als 2007 vor der Wirtschaftskrise; Quelle: Sand im Getriebe (SiG) Nr. 84
  4. DIW-Untersuchung 2009
  5. SiG 82, 7 ff
  6. Süddeutsche Zeitung vom 16.02.08 und mehrere Aussagen der Steuergewerkschaft in Rundfunk- und TV-Nachrichten
  7. Allein der Deutschen Bank wurde so ein Geschenk von über 30 Mrd. € gemacht; Quelle: ARD-Sendung am 2.8.2010, 21 Uhr »Das Ackermann-Portrait«
  8. Dt. Bank: 5, BASF 4, Daimler 3, IBM(!) 3, Bayer 2, Telecom 2, SAP 2
  9. vom Gewicht her die drei Einflussreichsten: BDI 2, DIHK 1, Bertelsmannstiftung 1
  10. im BMfWi. 8, BMfFin. 5, BMfGes. 3, BMflnn. 2, BMfÄuß. 2, BMfUmw. 2, BMfVert. 1, BMfVerk. 1, BMfBuF. l, Bundespresseamt 1
  11. Vizekanzler und Außenminister Westerwelle war im Beirat der Hamburg-Mannheimer Versicherungsgruppe und einer Consulting Firma, im Aufsichtsrat der ARAG und meldete 28 hochdotierte Referate (> 7 000 €) an.
  12. jüngste Debatte um des WiMin. Brüderles Auslassungen; Diskurs nach dem BVerf.G-Urteil zu den Hartz IV-Sätzen
  13. lt. DIW Wochenbericht 4/2009 betrug es 2007 5,9 Bill. €
  14. Staatsschulden lassen sich grundsätzlich nicht durch »Sparen« tilgen, zit. Humane Wirtschaft 4/2010, S. lOf, aus dem Artikel von Prof. Dr. Moewes , S. 7 – 13, weil u. a. der Binnenmarkt ruiniert wird; so auch ARD-Sendung »Der Presseclub« am 8.8.2010, 12:00 – 12:45 Uhr
  15. ablehnende Haltung gegenüber einem allgemeinen Mindestlohn-Gesetz, wie es in vielen EU-Ländern existiert
  16. jüngster Armutsbericht der Wohlfahrtsverbände und Auslassungen von Regierungsmitgliedern über das BVerfG­Urteil zum Hartz IV-Gesetz vom Januar 2010
  17. eine Bezugnahme auf nur abhängig beschäftigt, Umrechnung der Teil- auf Vollzeitarbeitsplätze und Herausnahme der Leiharbeitsplätze ergab den Verlust mehrerer 100 000 Arbeitsplätze in den letzten 10 Jahren; Quelle: AG Alter­native Wirtschaftspolitik, Memorandum 2009 und 2010
  18. allgemein anerkannter Grundsatz der Volkswirtschaftslehre
  19. Siehe auch: Humane Wirtschaft, Heft 4 (Juli)/2010 , u. a. S. 13
  20. Diskussionen Mitte August 2010 in allen Nachrichten und Tageszeitungen
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