„Ach, Asylantenkinder halt …“

Renate Müller

Renate Müller

Dieser Erfahrungsbericht war vor 20 Jahren im OHA zu lesen – ein Beitrag, der perfekt zur aktuellen Asyldiskussion passt.

Donnerstag, 13.05.1993

Ich mache einen Besuch im Asylheim. Wieder einmal sind Kinder krank. Ein 2-jähriger Junge, der die Windpocken noch nicht ganz überstanden hat, hat eine geschwollene Ohrspeicheldrüse. Schaut aus wie Mumps. Ein gerade ein Jahr alt gewordenes Mädchen hat seit 3 Tagen Windpocken. Sie hat über 40° C Fieber. Die Mutter wartet in großer Sorge auf den Kinderarzt, der versprochen hat, nach der Sprechstunde vorbeizukommen. Der Arzt kommt und stellt nach der Untersuchung Rezepte aus. Ich erkundige mich, welche Apotheke Dienst hat, und fahre los, um die dringend benötigten Medikamente zu besorgen.

Der Apotheker in Altenstadt nimmt die Rezepte in Empfang und erklärt mir, dass er sie eigentlich zurückweisen müsse, da die Angaben über den Versicherten nicht vollständig seien. Aber ich könne ja nichts dafür. Ich sage, dass das über das Sozialamt im Landratsamt gehe. „Ach, Asylantenkinder halt. Irgendwer wird es schon bezahlen. Der deutsche Steuerzahler zahlt das schon.“ Mürrisch füllt der Apotheker eine Lösung ab. „Den ganzen Tag haben sie nichts zu tun, und am Abend müssen sie dann zum Arzt gehen.“ Ich erwidere: „Das Kind hat sehr hohes Fieber, und der Arzt war gerade eben erst beim Hausbesuch da. Außerdem wohnen sie sehr weit außerhalb und können ohne Auto mit so einem kranken Kind nicht zum Arzt in die Sprechstunde.“ „Ja, dann ist es was anderes. Aber besser wäre, sie wären gar nicht hier, sondern bei sich zu Hause.“ „Sie sind aus Jugoslawien. Da ist Krieg.“ „Ja, und?“ „Würden Sie mit kleinen Kindern in einem Land bleiben, in dem Krieg ist?“ „In unserem Grundgesetz steht, politisch Verfolgte. Die sind nicht politisch verfolgt. Und außerdem hab ich da sowieso eine andere Meinung. Mit denen werden wir schon noch aufräumen.“

Ich nehme die Medikamente und fahre zum Asylheim. Dort werde ich schon erwartet. Als man mir unbedingt Geld fürs Benzin geben will, lehne ich ab. Nun ist mir endgültig zum Heulen zumute.

Ich fahre nach Hause und tippe diese Geschichte in den Computer.

Renate Müller
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