Aus dem Tagebuch eines Asylhelfers (TEIL EINS) – Jetzt heißt es: »Wir schaffen was!«

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Wir schaffen das schon, wenn wir einfach aufeinander zugehen – und auch künftig unseren Mitmenschen freundlich begegnen!

Vor einem Jahr sagte Angela Merkel, „Wir schaffen das!“ und öffnete die Grenzen für die auf dem Balkan gestrandeten Flüchtlinge.

Ich schloss mich damals spontan einem Kreis ehrenamtlicher Helfer an, denn die vor Krieg und Hunger Geflüchteten erinnerten mich an die Zeit, als meine Eltern mit ihren vier Kindern als Ausgebombte in der Fremde Zuflucht suchen mussten. Es wurden auch Erinnerungen wach an die Herzlichkeit und Gastfreundschaft, der ich in den Ländern, aus denen nun die Menschen flohen, so oft begegnet war. Gleichzeitig war mir bewusst, dass Deutschland nun darauf angewiesen war, dass wir Bürger bei der Bewältigung einer historischen Aufgabe mit anpacken.

Erfahrungen und Erlebnisse

Nach einem Jahr möchte ich nun persönlich Bilanz ziehen: Was habe ich erlebt als »Asylhelfer«, welche Erfahrungen habe ich gemacht? Im Folgenden will ich einige meiner Erlebnisse in Form von unzusammenhängenden Notizen wiedergeben:

  • Mit Schulbeginn, Mitte September, starten wir, d. h. Sabine[1] und ich, unseren Sprachkurs. 20 Männer im Alter von 17 bis 45, kein weibliches Wesen. Sie kommen aus Irak, Afghanistan, Eritrea, Syrien, Pakistan. Einige wenige sprechen etwas Englisch, die anderen Arabisch, Paschtu, Farsi, Urdu, Tigrine … Lateinische Buchstaben kennen keineswegs alle, auch Analphabeten sind unter unseren Schülern. Wir haben eine Tafel, Kreide, eine Flipchart, eine große Uhr, einige Poster, Kalenderblätter als Lehrmaterial und auch ein Lehrbuch »Deutsch für Ausländer«. Und so fangen wir denn an: „Ich heiße Wolfgang. Wie heißt du?“
  • Wir unterrichten 2 Mal in der Woche, von 9 bis 12 Uhr. Kaum einer unserer Schüler kommt pünktlich, das ist frustrierend. Immer wieder weisen wir darauf hin, wie wichtig Pünktlichkeit in Deutschland ist. Erst allmählich verstehen wir, warum es Vielen schwer fällt, um 9 Uhr zum Unterricht zu erscheinen: Sie finden keinen Schlaf in der Nacht, dann kommen die Gedanken, das Heimweh, die Sorgen, die schrecklichen Erinnerungen. Und manche geistern dann in den Unterkünften umher, stören die Mitbewohner und erst mit dem ersten Tageslicht übermannt sie die Müdigkeit.
  • Immer wieder kommen unsere Schützlinge hilfesuchend mit (selbst für uns) schwer verständlichen Schriftsätzen von der Ausländerbehörde, dem Jobcenter, dem Landratsamt, der Krankenkasse usw. Wir helfen dann beim Übersetzen, Ausfüllen von Formularen und Anträgen. Oft werden Termine gesetzt: „Bitte finden Sie sich pünktlich um 8:30 Uhr im Landratsamt, Zimmer xy, ein.“ Niemand scheint sich zu fragen, ob und wie es mit öffentlichen Verkehrsmitteln möglich ist, diesen Termin einzuhalten. Dann studieren wir Fahrpläne und nicht selten müssen wir auch Fahrdienste im eigenen PKW durchführen.
  • Im Landratsamt gibt es zwei engagierte und kompetente junge Frauen, die unseren Helferkreis (und viele andere) betreuen. Wir sind die unverzichtbare »Schnittstelle« zwischen den Behörden und den Geflüchteten. Immer wieder erhalten wir Anfragen wie: „Können Sie uns geeignete Praktikanten benennen?“ Oder: „Wen schlagen Sie für den Kurs XY vor?“ Als ich einmal den zuständigen Abteilungsleiter des Landratsamtes frage, wie er ohne die Asylhelfer all die Aufgaben bewältigen würde, ist die lapidare Antwort: „Dann gäbe es keine Betreuung der Geflüchteten.“
  • In einer der Unterkünfte gab es eine wüste Schlägerei. Das sprach sich auch in der Stadt herum und führte zu allerlei Spekulationen. Was war passiert? Über die Verwendung eines gemeinsamen Einkaufs kam es zum Streit, der damit endete, dass einem der Geflüchteten ein Schneidezahn fehlte. Polizei und Krankenwagen waren zur Stelle. Wir Ehrenamtlichen begleiteten den Verletzten – wie zuvor und nachher auch andere Kranke oder Schwangere – dann mehrfach zum Arzt.
  • Vom Stammtisch im Wirtshaus dringt Folgendes an mein Ohr: „Wieso arbeiten die eigentlich nicht?“ „Würdest du einen von denen einstellen?“ „Niemals!“ Oder: „Die sollen erst mal g‘scheit Deutsch lernen!“ (Ich denke daran, wie schwer es mir bisweilen fällt, den allgäuer Dialekt zu verstehen …). Oder: „Wo haben die eigentlich all die Fahrräder her?“ „Doofe Frage – geklaut natürlich, wie sonst?“ (Wenn die Stammtischler Augen und Ohren auch außerhalb des Wirtshauses offen hielten, wüssten sie, dass die Fahrräder von der Bevölkerung gespendet und oft von Ehrenamtlichen erst wieder fahrbereit gemacht wurden.)
  • Auch das gibt’s: Nach dem wöchentlichen Tischtennis gehen wir manchmal noch in ein Café und trinken einen Tee oder eine Limo. Diesmal haben mich die Geflüchteten eingeladen, zu einer Apfelschorle. Unvermutet tritt eine ältere Dame an unseren Tisch und legt ein kleines Bündel Geldscheine auf den Tisch. Verblüfft starren wir sie an. Sie aber sagt nur leise: „Jeden Tag eine gute Tat …“, geht mit ihrem Mann zum Auto und fährt davon.
  • Es ist faszinierend und beglückend zugleich zu sehen, wie schnell sich die Kinder der Geflüchteten in ihrer neuen Heimat zurechtfinden: Durch Kindergarten und Schule kommen sie in engen Kontakt mit Gleichaltrigen, bringen in der Regel gute Zeugnisse heim, haben deutsche Freunde, viele spielen Fußball und manche schon im ersten Winter Eishockey, sie kennen Manuel Neuer und Thomas Müller, radeln im Sommer zum Badesee, übersetzen für ihre Eltern Zeitungsartikel und wollen am liebsten nie mehr weg aus dem Pfaffenwinkel – obwohl sie meist noch auf engstem Raum in Unterkünften leben und im Vergleich zu den meisten deutschen Kindern auf Vieles verzichten müssen.

Wolfgang Fischer

 

Quellenangaben / Hinweise


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