Bürgerrat – ein Weg aus der Demokratiekrise?

Bürgerrat zum Thema: Deutschlands Rolle in der Welt (Grafik: Mehr Demokratie)

Ein Medienbericht über ein Demokratie-Experiment in Irland weckte das Interesse bei Mitgliedern der Organisation »Mehr Demokratie«. Eine Delegation reiste 2019 nach Irland um die Beteiligten des dortigen gelosten Bürgerrats zum Thema »Ehe für gleichgeschlechtliche Paare« zu treffen. Anhand der irischen Erfahrungen wurde ein Demokratie-Modellprojekt für Deutschland konzipiert: der Bürgerrat Demokratie.

Am 13. Januar startete der zweite bundesweite Bürgerrat mit aus ganz Deutschland ausgelosten Menschen: Auf zehn Online-Veranstaltungen bis zum 20. Februar werden die mindestens 169 Ausgelosten Empfehlungen dazu erarbeiten, wie die Bundesrepublik künftig auf der weltpolitischen Bühne auftreten soll.

Marianne Birthler, die als Vorsitzende den Bürgerrat begleitet, erklärt: „Demokratie und Freiheit leben davon, dass es möglichst viele engagierte, kritische und gut informierte Bürgerinnen und Bürger gibt. Menschen, die auf der Grundlage unserer Verfassungswerte und in Augenhöhe mit der Politik für einen lebendigen und steten öffentlichen Diskurs sorgen, sind die besten Garanten einer offenen Gesellschaft. Für einen solchen Diskurs und das wechselseitige Interesse braucht es nicht nur seriöse Medien, sondern auch Räume und Gelegenheiten, die einen vertrauensvollen Austausch ermöglichen. Idealerweise verbindet dieser nicht nur Bevölkerung und Politik, sondern auch Menschen unterschiedlicher Generationen, Herkünfte, Berufe oder Lebensweisen, die miteinander sonst selten ins Gespräch kommen.“

„Ein geloster Bürgerrat bringt das ganze Land an einen Tisch. Bei diesem Bürgerrat geht es um Empfehlungen zu Deutschlands außenpolitischer Rolle, aber auch darum ein neues Element politischer Beteiligung zu erproben. Nebenbei gewinnen wir Erkenntnisse über Bürgerräte im Online-Format“, ergänzt Claudine Nierth, Vorstandssprecherin des Vereins Mehr Demokratie.

Schirmherr Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble sagt dazu: „Bürgerräte sind ein mögliches Instrument für mehr Mitsprache und Dialog in der repräsentativen Demokratie. Sie sind keine Konkurrenz zu den bewährten parlamentarischen Entscheidungsverfahren, sondern eine sinnvolle Ergänzung, die auch dazu beitragen kann, das Verständnis für die Komplexität politischer Fragen und demokratische Entscheidungsprozesse zu vertiefen.“

An sechs Mittwochabenden und an vier Samstagen beraten die Teilnehmenden über Detailfragen in den fünf Themenbereiche Nachhaltige Entwicklung, Wirtschaft und Handeln, EU-Außenpolitik, Frieden und Sicherheit, Demokratie und Rechts–staatlichkeit. Jede ausgeloste Person wird einem Themenbereich zugeordnet und darüber in immer wieder neu zusammengesetzten Kleingruppen diskutieren. Fachleute informieren in Online-Vorträgen über verschiedene Perspektiven zu den Einzelthemen und stehen für Fragen zur Verfügung. Alle Beratungen werden professionell moderiert und dokumentiert. Die Ausgelosten kommen immer wieder auch in großer Runde zusammen und stimmen am Schluss über die Handlungsempfehlungen zur Außenpolitik ab, die am 19. März in Form eines Bürgergutachtens öffentlich dem Bundestag übergeben werden.

In Baden-Württemberg gibt es seit dem 16. Dezember 2020 das Bürgerforum Corona. Ihm gehören 50 zufällig ausgewählte BürgerInnen an. Zudem ist eine Online-Beteiligung möglich.

Die Zusammensetzung des Bürgerrats entspricht von der Verteilung der Altersgruppen, Geschlechter, Bildungsabschlüsse, Wohnorte sowie von Wohnortgröße und Migrationshintergrund her ziemlich genau der Bevölkerung in Deutschland. Zunächst wurden dafür Gemeinden ausgelost, dann aus deren Einwohnermelderegistern zufällig ermittelte Personen angeschrieben und aus den Rückmeldungen dann die Teilnehmenden am Bürgerrat zusammengestellt. Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen wurden gezielt angesprochen, um ihren Anteil beim Bürgerrat dem Anteil an der Gesamtbevölkerung anzunähern. Der Prozess wird durchgeführt von den Beteiligungsinstituten ifok, IPG und nexus und finanziert mit Unterstützung von Robert Bosch-Stiftung, Stiftung Mercator, Schöpflin Stiftung, Zeit-Stiftung und Open Society Foundations.

Der Erfolg der Bürgerräte wird davon abhängen, ob sich das Parlament ernsthaft mit den Ergebnissen auseinandersetzen wird und die Vorschläge auch in ihre Entscheidungen einfließen lässt oder gegebenenfalls begründet, warum dies nicht geschehen ist.

Die bei der Pressekonferenz zum Auftakt des Bürgerrats mehrfach erwähnte Vorgehensweise »Gelesen, gelacht und gelocht« würde nur zu Frustration führen.

Renate Müller, Schongau

Quellen:
Mehr Demokratie e. V. und Pressekonferenz zum Auftakt des Bürgerrats
Die offiziellen Plenums-Teile des Bürgerrats (große Runde) werden per Livestream übertragen auf https://www.youtube.com/user/mehr0demokratie0de. Sie werden auch aufgezeichnet und sind mit leichter Verzögerung ebenfalls über den youtube-Kanal von Mehr Demokratie abrufbar.

Bundesweite Volksentscheide

Dr. Wolfgang Schäuble spricht sich auf der Pressekonferenz gegen bundesweite Volksentscheide aus.
Claudine Nirths Reaktion darauf: „Es ist so, dass von den sieben Fraktionen im Bundestag genau sechs Parteien sowohl in ihren Grundsatzprogrammen oder in ihren Wahlprogrammen sich für bundesweite Volksentscheide ausgesprochen haben. Die einzige Fraktion, die das nicht hatte, war die CDU. Jetzt kommt die Neuigkeit hinzu, dass die GRÜNEN sich in ihrem Grundsatzprogramm gegen Volksentscheide ausgesprochen haben. Das ist ein bisschen gegen die Zeit, weil wir merken, dass der Bürgerrat Demokratie z. B. gerade die Empfehlung ausgesprochen hat, Bürgerräte mit »Direkter Demokratie« zu kombinieren.“

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