Denke ich an die Welt

Maurice de Coulon

Denke ich an die Komplexität der Welt, an die Trauma-gesteuerte Anmaßung der Macht, an die Profitgier der Reichen, an die Ohnmacht der unterdrückten und missbrauchten Kreaturen aller Art, an das Fehlen von Vernunft und Gerechtigkeit im Wirtschaftsgebaren der Welt, an die Vergeblichkeit aller Kriege mit deren Opfern, an das Gebunden-Sein so vieler Herzen und Geister an überholte und lebensfeindliche Sinngebungskonzepte, an die Unfähigkeit der Menschen, über die Irrtümer der fernen und nahen Geschichte zu trauern, das Unvermögen, die destruktivsten „inneren Schweinehunde“ zu überwinden, an alle Projektionen des Bösen auf einen erklärten Feind, und, und, usw. … dann kann ich eigentlich nur einsehen, dass das Leben mit der Welt an sich keinem bestimmten Ziel und schon gar nicht dem Ziel eines Friedens in der Würdigung aller Belange der Lebewesen zusteuert, geschweige denn zusteuern will. Und ich muss der Illusion und dem Wunschdenken abschwören, es wäre die Bestimmung der Welt, ein Ort des Friedens und des Gleichgewichts, der Gerechtigkeit und der Liebe unter allen Menschen, Völker und Lebewesen zu werden.

Das Leben erzeugt sich selbst als Welt, mit allem, worin es sich manifestiert, im Guten wie im Bösen. Es „will“ nichts anderes als seine Selbstoffenbarung in allem, als was es sich manifestiert. Es ist sich selbst Sinn genug.

Erst das Sehen dieser Wahrheit des Lebens, erst das Eingehen des Risikos, hinzunehmen, dass es vermessen, ja die größte Versuchung ist, die Welt im Ganzen ändern zu wollen oder einem bestimmten Ziel zuzuführen, erst wenn ich aufhöre zu glauben, es müssten bestimmte Bedingungen auf der Welt herrschen, bevor ich mit gutem Gewissen leben kann, erst wenn ich dazu bereit bin und dazu ja sage, dass ich im kosmischen Großen und Ganzen keine persönliche Bedeutung habe und jederzeit ohne Verlust für die Welt vom Leben „fallen gelassen“ werden und sterben kann, ja, erst dann erfahre ich die Gelassenheit, die ich brauche, um mich um meine persönliche Umwelt und meine eigene Implikation in der Welt zu kümmern.

Denn ich habe nur mich als „Träger der Belange“, die mich betreffen und die sich durch mich manifestieren. In mir wirkt der Geist, der mich zum Atmen, zum Gehen, zum Hassen oder Lieben und jedenfalls zum Handeln führt. Verantwortung für die Welt ist für mich nichts anderes als Verantwortung für das zu übernehmen, was in und durch mich wirkt im Hier und Jetzt, im versuchten Verständnis oder in einem für mich sinnergebenden Verständnis meines eigenen Daseins und der Weltumstände, in denen ich lebe. Erst dann fühle ich mich frei von der Verpflichtung, in einer fremdbestimmten, wie auch immer rational begründbaren oder zielführenden Weise handeln zu müssen. Erst dann folge ich dem in meiner Tiefe, in der Stille erscheinenden Licht, das mich zu einem inwendigen Sehen, Verstehen, Streben und Handeln führt. Vielleicht!

Ich kann nur in einem „Von-mir-aus“ leben und handeln, wie auch immer dieses „Von-mir-aus“ von anderen Standpunkten aus gesehen wird oder von irgendwelcher Instanz, die sich die rechte Deutung einer Bestimmung der Welt anmaßt, beurteilt wird.

Ich weiß, dass es nicht darauf ankommt, wie die Welt werden soll, sondern darauf ankommt, wie ich mich darin und dazu, hier und jetzt, verhalte; ich, mit allem Guten und Schlechten, was mich ausmacht, im Gelingen wie im Verfehlen des Lebens in meinem Wirken.

Im Geiste kann ich sagen: Von mir aus habe ich keinen Feind, von mir aus übe ich keine Gewalt, von mir aus liebe ich, von mir aus verzeihe ich, von mir aus konsumiere ich in bescheidenem Ausmaß, von mir aus versuche ich meinen Fußabdruck auf der Erde so weit wie möglich zu reduzieren, usw. Aber ich bin mir gleichzeitig bewusst, dass die Bedingtheit der Welt, wie sie gerade ist, mir oft einen Strich durch diese Absicht macht, und dass meine eigenen Unzulänglichkeiten meine löblichen Ansätze – schon im Alltag mit meinen Nächsten – im Keim ersticken lassen können.

Als ethische Grundlage wie im Denken eines Albert Schweitzers („Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“) reicht es voll und ganz, in diesem, von Jesus Christus, dem ersten „Versteher des Lebens“, inspirierten Bewusstsein zu leben, auf dass das Leben bestimme, was leben und gedeihen soll, und nicht mein Wille geschehe. Deshalb halte ich es für vermessen, davon auszugehen, dass wir es „in der Hand“ hätten, aus der Welt einen wirtlicheren Ort für den Menschen zu machen. Wir haben nur „in der Hand“, das tun zu können, wozu uns das Leben, unabsichtlich und ohne bestimmtes Ziel, bringt. Und vielleicht, aber nur vielleicht, könnte es doch noch so kommen, dass irgendwann die Welt ein wirtlicherer Ort wird, auf dass die „Letzte Generation“ doch nicht zur letzten Generation auf der Welt werde.

Maurice de Coulon, Schwabsoien
im Januar 2023

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