Ein Blick zurück kann sehr wohl weiterhelfen

Selbstkritische Anmerkungen zu meinem Artikel »Leitkultur ist kein Wackelpudding …« (OHA Nr. 422)

Kürzlich sprach mich ein Freund auf meinen Artikel in der Januar-Ausgabe des OHA an und meinte, die darin zum Ausdruck gekommene negative Bewertung einer Rückbesinnung auf die Vergangenheit könne er nicht teilen. Ich habe daraufhin den Artikel noch einmal gelesen und stellte fest: Der Mann hat Recht, meine Formulierung kann leicht missverstanden werden. Und ich entdeckte auch noch eine andere Aussage, die erklärungsbedürftig ist: Ich kritisiere die Mitglieder der Jungen Union, die sich nicht „voll Tatendrang und Optimismus den Problemen der Zukunft stellen“. Das klingt sehr nach Angela Merkel und ihrem „Wir schaffen das!“ – eine Aussage, die ohne die Klärung der Fragen „WAS müssen wir schaffen?“ und „WIE können wir es schaffen?“ jedoch nicht viel mehr als eine wohlklingende Floskel bleiben muss.

Zu Recht stellt Sigi Müller in seinem Leitartikel der gleichen OHA-Ausgabe die Frage, „Wo ist der konkrete Ansatz (zur Lösung der gesellschaftspolitischen Probleme)?“. Indem ich mich noch einmal selbstkritisch mit meinem eigenen Artikel beschäftige, hoffe ich einen kleinen Hinweis auf mögliche zukunftsgerichtete Perspektiven zu geben.

Zur Klarstellung also Folgendes: Meine Ablehnung einer »rückwärtsgewandten Ideologie« bezieht sich auf den symbolhaften Rückzug in eine Idylle, die unwiederbringlich der Vergangenheit angehört. Die Rückzug der Menschen ins Biedermeier im 19. Jahrhundert beispielsweise zeigt, dass mit einer solchen Einstellung kein Problem gelöst werden kann: Die Bilder des Malers Spitzweg, die verängstigte Bürger in niedlich dekorierten Stuben auf der Flucht vor der Realität zeigen, wirken auf uns heute belustigend. Es gibt für mich aber darüber hinaus noch andere Gründe, den „reaktionären Kult der Vergangenheit“ (Karl Marx) aus tiefer Überzeugung abzulehnen: Ich will nicht – wie ganz offensichtlich viele Rechtspopulisten – zurück zu einer Klassen-Gesellschaft, wie wir sie zu Kaiser Wilhelms Zeiten hatten, nach dem »Dritten Reich« sehne ich mich schon gar nicht, auch nicht nach einem Europa mit nationalen Grenzen und in die 1950er Jahre mit den Frauen am Herd, Prügelstrafe in den Schulen, verklemmter Sexualität und Alt-Nazis an den Schaltstellen der Macht möchte ich auch nicht zurück. Nun ist es aber nicht so, dass frühere Zeiten keine Erkenntnisse, Erfahrungen, Ideen und Errungenschaften aufzuweisen hätten, auf die wir heute mit Gewinn zurückgreifen könnten: Wie viel Weisheit findet sich schon in dreitausend Jahre alten Bibelstellen, vor zweitausend Jahren wurde die »Bergpredigt« formuliert, die Philosophen der Aufklärung haben uns wichtige Erkenntnisse hinterlassen, ebenso Karl Marx und Rosa Luxemburg. Nach dem zweiten Weltkrieg hat ein Wirtschaftswissenschaftler namens  Walter Eucken das Konzept der »Sozialen Marktwirtschaft« entworfen, einer Wirtschaftsverfassung, die zwar die Flexibilität und Dynamik der Märkte nutzbar macht, sie aber gleichzeitig durch einen demokratisch legitimierten Ordnungsrahmen soweit »zähmt«, dass »Wohlstand für alle« möglich wird. Das hat einige Jahre recht gut funktioniert – bis neoliberale WirtschaftspolitikerInnen wie Reagan, Thatcher, Clinton, Westerwelle, Schröder usw. die Märkte zugunsten der Kapitalisten »entfesselten«. Wir könnten heute auch viel lernen von Erhard Eppler, der in den 1980er Jahren von »Lebensqualität« sprach und damit sehr viel mehr meinte als Überfluss an Konsumgütern. Oder erinnern wir uns an die Forderung »Rückkehr zum menschlichen Maß« (Leopold Kohr) und an den Slogan aus den 1970er Jahren »Small is Beautiful« (E. F. Schumacher) – im Zeitalter der Globalisierung aktueller denn je!  Besinnen könnten wir uns auch auf Carl Amery, dessen Buch »Natur als Politik« aus den 1980er Jahren geradezu eine Handlungsanleitung für jede(n) darstellt, der einen Ausweg aus den Verirrungen der Politik von heute sucht.

Die Beispiele zeigen: Ein Blick zurück kann durchaus hilfreich sein, es gilt, aus den vielfältigen Erkenntnissen, die uns frühere Generationen hinterlassen haben, das herauszusuchen und neu zusammenzufügen, das uns befähigt, die Zukunft zu gestalten! Wahrscheinlich muss zunächst jede(r) bei sich selbst damit anfangen: Selbstbewusst das tun und sagen, was man/frau als richtig erkannt hat, Empathie und Solidarität zeigen, freundlich und hilfsbereit sein, Hass entgegentreten, »fake news« entlarven, verantwortungsvoll mit der uns anvertrauten Erde umgehen, die wir von unseren Kindern ja nur geborgt haben (wie es ein gelungenes Wahlplakat der GRÜNEN vor vielen Jahren auf den Punkt brachte).  Wenn es nur recht viele sind, die sich dem Zeitgeist widersetzen, kann daraus eine Massenbewegung werden, vergleichbar der weltweiten Bewegung der 1960er Jahre. In Südkorea, Spanien, Italien, Frankreich (»nuit debout!«) und jetzt auch in den USA – nach dem Wahlsieg von Trump – gehen vor allem junge Menschen auf die Straße. Sie rufen nicht, „Ausländer raus!“, sondern „Freiheit (im Denken), Gleichheit (vor dem Recht), Brüderlichkeit (Solidarität)!“ und fordern damit eine Rückbesinnung auf die Errungenschaften der menschlichen Zivilisation. Die haben wir, weiß Gott, bitter nötig!

Ob nun klarer geworden ist, was ich in meinem Artikel über den Unsinn einer »bayerischen Leitkultur« sagen wollte? Ich hoffe es.

Wolfgang Fischer
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