Gefangenschaft

Rita Herder mit Susanne und Günter Nordmann bei einem Spaziergang während einer Geburtstagsfeier in Seehausen

R: Die Tochter vom Martin hat wunderbar geredet.

G: Ja, neben all den anderen Würdigungen waren ihre Worte der berührende Höhepunkt dieser großen Geburtstagsfeier.

S: Die Katharina und ihr Vater sind für mich ein einmaliges Gespann. Allerdings ist mir bei dieser Feier wieder einmal in den Kopf geschossen, dass viele Menschen in Gefangenschaft leben.

R: (bleibt abrupt stehen) Wie meinst jetzt das, Sanne?

S: Sie leben in einer Welt, die auf mich zunehmend wie ein Gefängnis wirkt. Ein Gefängnis, das von den Mauern Wachstum, Rohstoff- und Energieverschwendung, Konsumzwang, Automobilität und Erstarrung umschlossen ist. Und die Wärter dieser Einrichtung werden vom Kapitalismus bzw. seinen großen Nutznießern gestellt.

R: (im Weitergehen Richtung See) Okay, da ist was Wahres dran.

G: Sanne hat ganz Recht, Rita. Der Wohlstandspfad, den unser Land und vergleichbare Nationen in den letzten Jahrzehnten eingeschlagen haben, hat inzwischen etwas Zwanghaftes und gleichzeitig Unhaltbares an sich.

S: Absolut unhaltbar. Und trotzdem gibt es fast keine Ausbruchversuche. Man hat sich dort eingelebt und eingerichtet. Und das Urteil, das Fridays for Future erkämpft hat, wird deshalb kaum etwas bewirken.

R: Okay, Sanne, es ist wirklich erstaunlich, wie sich ein Teil der Menschheit festgefahren hat, obwohl es dort von fähigen und klugen Köpfen nur so wimmelt. Aber nicht einmal die Eliten schaffen es, einen Ausbruch aus dem Gefängnis Wohlstand in die Wege zu leiten.

S: Und das ist für mich der Kern des Dramas, das sich immer mehr zuspitzt. Gerade die Eliten denken gar nicht daran, in ein zukunftsfähiges Leben einzutreten. Das breite Volk würde so einen Weg ohne Aufstand mitgehen, wenn man nur das Fundament dafür bereiten würde.

G: Ja, der ziemlich radikale Wandel, um den wir im Grunde nicht herum kommen, lässt insbesondere die Eliten unbeweglich werden; vor diesem Wandel schrecken ausgerechnet sie zurück. Die Wirtschaft müsste ja auf unsere elementaren Bedürfnisse zurückgefahren werden und die Globalisierung auf das unvermeidlich Notwendige, was letztlich heißt, dass die Welt so regional wie nur möglich gestaltet werden muss.

R: Gut, dass uns der Martin nicht hören kann, denn dieses Reden würde ihm seinen 90. Geburtstag gründlich verderben. Schließlich hat ja auch er mit dafür gesorgt, dass aus dem bäuerlichen Oberland eine Wohlstandsregion wurde.

S: So sympathisch er mir auf der einen Seite ist, so kritisch sehe ich seit Jahren sein Wirken. Wie viele andere hat er seinen Einsatz für die Region und das Land von Anfang an nicht zu Ende gedacht; er sah nicht die Grenzen, die man berücksichtigen sollte.

G: Du, ich bin mir ziemlich sicher, dass er inzwischen manches anders machen würde. Es war ja nicht einmal heute zu übersehen, dass er mit etwas zwiespältigem Blick auf sein Lebenswerk schaut.

Guggera

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