»Desan Potoprèns« – Runter nach Port au Prince (13)

Eine meiner üblichen Fahrten quer durchs Land

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Meine Mitfahrer:

Fritzner, zirka 45, Amerikaner haitianischer Herkunft, Inhaber einer Consultingfirma, die für das Projekt eine Marktstudie macht; sympathisch

Andreus (»Andreüs«), 53 einer unserer Vorbild-Bauern, doch lokal nicht beliebt

Sevenson, sein 11-jähriger Sohn, wirkt überdurchschnittlich intelligent

Amando, 25, Lehrer an der Schule Mara, bei Mare Rouge, eher schüchtern

Robens, 43, einer meiner Lieblingskollegen, sehr sozial, offen und gesellig

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Um 5 Uhr aufgestanden, alles gepackt, gefrühstückt, bin ich zwanzig vor sieben im Hof unserer Chalets. Meine Mitfahrer sind pünktlich. Wir begrüßen uns, palavern ein bisschen. Ich bitte Abenus, einen der Wächter, meinen Reservekanister in den Tank zu füllen. Doch der Kanister ist leer. Mein Tank auch. Er hat den Kanister, statt in seinem Raum, im Flur der Baracke stehen lassen. Beschriftet war er, wie ich es ihm aufgetragen hatte. Half nicht, ein Kollege muss sich wohl bedient haben. Die Dieselbehälter für den Generator sind auch leer. Das Prinzip, dass unser Pickup, jedes Mal wenn er hoch fährt, die großen Spritbehälter lädt, ist zwei Mal hintereinander nicht befolgt worden. In Kürze gibt es also auch keinen Strom mehr in den drei Häusern. Das nächste Auto kommt morgen Abend. Vielleicht eines heute Abend.

Während ich überlege, lasse ich meiner Wut ein wenig Lauf. Sie trifft die beiden Wächter, die nicht wissen, wer meinen Kanister genommen hat, und mir nicht gesagt haben, dass er seit Tagen leer neben dem Generator stand. Mein Ärger trifft auf Verständnis bei allen, die im Hof herumstehen. Sie pflichten mir bei, dass man an einem so abgelegenen Ort nicht so schlampen kann, wenn es um so wichtige Dinge wie Sprit geht. Ich überlege. Wieder alles auspacken, bleiben, die letzte Chance auf einen vielleicht freien Tag in Port au Prince verfallen lassen? Alle für unterwegs geplanten Dinge verschieben?

Robens geht die 300 Meter runter zum Telefonplatz, um zu erfragen, ob das Auto nicht heute Abend schon kommt. Ich frage ihn, ob einer der beiden lokalen LKW-Fahrer nicht eventuell Sprit zu Hause haben könnte. Er glaubt nicht, ist aber einverstanden, sie dennoch anzurufen. Er meint, wir sollen auch ohne Sprit losfahren und fahren, so weit wie wir kommen, dann ein Mototaxi abwarten und es mit einem leeren Kanister voranschicken.

Ich warte. Ohne Stopps beträgt die reine Fahrtzeit 7 bis 8 Stunden. Beim Warten fällt mir ein, die Frauen in der Küche zu fragen, ob sie leere Wasserkanister zum Mitgeben haben. Haben sie. Hätten sie vergessen. Sie finden einen, dann noch einen und einen dritten. Trinkwasser, das ist dasselbe Problem wie mit Sprit.

Als Robens vom Telefonieren zurückkommt, sagt er, Ti Papi, einer der LKW-Fahrer, ist in Belle-Anse. Belle-Anse ist wie Jacmel, wo wir normal tanken, auch 5 Stunden entfernt unten and der Küste, aber südöstlich statt südwestlich. Er wäre auf dem Weg hoch und kann uns etwas Sprit mitbringen. Also fahren wir los. Ti Papi ist der Sohn von Saintmak, einer der Forstwächter. Saintmak, so erfahre ich bei der Gelegenheit, hat 17 Kinder.

Unser erster Stopp ist bei Elisa, eine der raren Frauen, die in Versammlungen sich trauen zu reden. Weil sie engagiert und zuverlässig ist, habe ihr ein paar Gemüsesamen zum Testen gegeben. Die Kohlrabis hat sie zu eng gesät und nicht rechtzeitig pikiert, sie haben lange Hälse bekommen. Die Rettiche sind schön geworden. Leider hat die Verkostung im Kollegenkreis keine Begeisterungsstürme erbracht. Sie meinten, in der Suppe wären sie okay. Da es keine Tradition gibt, Gemüse und Salate roh zu essen, sehe ich eher schwarz für die weißen Rettiche.

Elisa wird als Ehrengast eingeladen zu unserem großen Jahresabschlussfest in Mare Rouge. Ihre beiden Töchter Rosann und Rosmèn werden informiert, dass sie im Rahmen ihres Jobs als Gesundheits- und Hygiene-Promoterinnen am Fest bei der Kinderanimation mithelfen müssen.

Der nächste Halt ist der Hof von Gesner. (»G« wie »Sch«) Der alte Gesner ist eine lokale Autorität. Daher befinden sich vor seinem Haus immer allerhand Leute, die etwas brauchen. Ein geselliger Ort. Er ist auch Treffpunkt für die Treffen der Hygieneberaterinnen unseres Projekts. Diese Kontakte nützen wir jetzt, um Fritzner, dem Consultant, flugs ein paar Leute für seine Marktstudie zum Interview zur Verfügung zu stellen. Einer der Söhne von Gesner betreibt seit kurzem für mein Aufforstungsprojekt eine kleine Baumschule. Ich schaue vorbei, lobe seine Arbeit und rate ihm, mit dem Pflanzen besser zu warten, bis ich wieder aus dem Urlaub zurück bin.

Der für mich wichtigere Halt ist 200 Meter weiter unten, bei Andreus. Er hatte mich um eine »Rou Lib«, eine Freifahrt nach Port au Prince, gebeten und mir einen Zettel mit einem Termin beim Arzt gezeigt. Erst als er mit seinem Sohn gemeinsam einsteigt, kapiere ich, dass es der Sohn ist, der ins Krankenhaus muss. Da ein anderer angemeldeter Mitfahrer nicht erschienen ist, gibt es einen Platz. Platz brauchen auch die zwei großen Säcke Gemüse von Andreus und der Gockel des Lehrers, alles Geschenke für Familie und Freunde unten in der Stadt.

Auch Andreus hat Mittel für eine Baumschule bekommen. Seit vier Wochen ermahne ich ihn, endlich loszulegen. Jetzt sitzen dort Frauen und Kinder und füllen die vorgemischte Erde in Pflanztütchen. Vier Beete mal 270 Tütchen sind fertig, das macht 1080 Tütchen. 1080 von 10.000. Im November hätten sie ausgesät werden sollen. Ich zähle die fehlerhaften Tüten, um abzuschätzen, ob ich beim Lieferanten reklamieren muss. Beim Vorbeigehen sehe ich, dass die Eukalyptusbäume, von denen wir im Frühjahr Samen gewinnen wollen, gerade blühen.

Foto: Frauen und Kinder füllen die vorgemischte Erde in Pflanztütchen

Frauen und Kinder füllen die vorgemischte Erde in Pflanztütchen

Sevenson ist Andreus jüngstes Kind. Die stichelnden Fragen von Robens, warum er neun Kinder mit drei verschiedenen Frauen habe und dass er seine ersten beiden Frauen im Elend zurückgelassen hätte, bringen ihn nicht aus der Ruhe. Er hätte sie nicht händeln können. Ihn aus der Ruhe bringen, das schafft anscheinend seine dritte Frau. Er schlägt sie viel, so sagt man. Kürzlich hatte sie ihn verlassen. Inzwischen ist sie wieder da.

Diese Seite von Andreus ist schwer vorstellbar, vor allem weil ich die ganze Zeit einen wirklich außergewöhnlichen rührenden Vater erlebe. Klar, Sevenson muss folgen, aufs Wort. Doch ich habe noch keinen anderen Bauern hier gesehen, der einem Kind so viel und so einfühlend die Welt erklärt. Sevenson verlässt das erste Mal seinen Geburtsort, er sitzt das erste Mal in einem Auto. „Das ganze Blaue dort unten nennt man Meer“, sagt ihm Andreus, als wir es weiter unten das erste Mal sehen. „Stell dir vor, das alles ist Wasser. Aber das ganze Wasser kann man nicht trinken, es ist salzig.“

Krass eigentlich, wenn man aus einer Karstlandschaft kommt, wo es Wasser nur gibt, wenn es regnet, und Bäche nur als Sturzflüsse während eines Unwetters erscheinen. „Und wenn in der Stadt unten ein Auto hinter dem anderen steht, das nennt man Stau“, erklärt Andreus. Ob der Junge sich das vorstellen kann? Vielleicht hat er schon einmal zwei Autos gleichzeitig gesehen, aber ich bin mir nicht sicher.

Als wir die Abbiegung erreichen, wo Ti Papi uns mit dem Sprit begegnen sollte, hören wir, er sei noch gar nicht losgefahren. Wir fragen Leute, ob hier jemand auch Diesel verkauft. Ja, heißt es. Welch Glück! Ein kleines Stück weiter können wir drei Gallonen tanken. Von da an geht die Holperfahrt entspannter weiter. Ohne Probleme queren wir auch den Fluss unten vorm Meer. Und als wir nach fünf Stunden Fahrt die erste Tankstelle erreichen, gibt es Sprit.

In Jacmel gibt es einen kleinen Supermarkt. Er hat eine Klimaanlage, eine Toilette, man bekommt Sandwiches und kalte Getränke, und das macht mich immer wieder fit für die zweite Hälfte der Strecke. Andreus fragt höflich nach einer Toilette. Vorbild halt! Einmal hatte ich zwei Bäuerinnen dabei, die haben sich, so schnell konnte ich gar nicht schauen, von der Autotür verdeckt, in den Rinnstein vor dem Laden gesetzt.

Da Sevenson das erste Mal Stadt und Supermarkt betritt, war klar, dass er auch noch nie Eis gegessen hat. Dass ich damit auch Andreus eine Sensation bieten konnte, habe ich nicht erwartet. Andreus ist noch einmal Vorbild, weil er etwas zu essen dabei hat. Amando, der Lehrer, reist ohne Essen, ohne Wasser und ohne Geld, wie viele, und hofft auf die vielgelobte Solidarität. Ich hatte ihn vorher schon gewarnt, dass er mich nicht um eine „Rou Lib“ (Freifahrt) bitten und dann automatisch auch noch Essen und Trinken erwarten kann – und zahle dann trotzdem. Doch beim Eis muss er warten, bis alle anderen genug haben.

Mit Fritzner, dem ehemaligen Haitianer, habe ich angeregte Gespräche über Gott und die Welt, was Haiti bräuchte und was man im Projekt noch bräuchte. Er unterstützt die Welt-Erklärungen nach Kräften und bestärkt mich in meinen zugegeben manchmal erzieherischen Kommentaren. Als wir an der Stelle mit den Hasen vorbeifahren, die von ein paar Jungs den ganzen Tag bei jedem Auto, das vorbeifährt, an den Ohren zum Verkauf hochgehoben werden, frage ich ihn, ob er Hoffnung habe, dass man in Haiti eines Tages die Tiere besser behandeln würde. „Das wäre nicht für morgen“, meint er.

Foto: Liegengebliebener LKW

Dieser LKW-Fahrer hatte Glück im Unglück

Ab Jacmel wird der Weg einfacher, aber gefährlicher. Die jetzt geteerten Serpentinen verführen zum Schnellfahren und zum Überholen ohne Sicht. Der Belag hat Schlaglöcher. Nicht alle kenne ich auswendig. Die Straße überrascht auch mit liegengebliebenen Autos und LKWs, auch hinter Kurven oder an Engstellen. Denn defekte Fahrzeuge lässt man stehen, wo sie gerade stehen bleiben, oft sehr lange Zeit. Ich reime mir zusammen, dass das Wegschleppen vermutlich mehr kostet als das Wrack wert ist. Wenn der Besitzer eh nichts hat, was hilft es, ihn dann zu bestrafen oder gar einzusperren?

Die Kurven drehen manch einem auch den Magen um. Mir auch, wenn ich nicht am Steuer sitze. Das Blöde ist, dass meine Mitfahrer oft keine Erfahrung mit Reiseübelkeit haben. Meistens gehen sie zu Fuß die 14 Stunden nach Port au Prince. Im Auto können sie dann nicht rechtzeitig erkennen, dass ihnen schlecht ist. Mein vorsorgliches Tüten-Verteilen hilft daher nicht immer. Dieses Mal haben wir Glück.

Die Bergpassage zwischen der Süd- und der Nordküste könnte gut als Panoramastraße in die Tourismusbroschüre eingehen. Als wir die Kurven hinter uns lassen, erinnert mich der letzte Abschnitt, die 35 km Zielgerade nach Port au Prince an die Fahrt mit einem haitianischen Freund. Wir hatten Lieder gesucht, die wir beide kennen und gemeinsam singen können. Andreus war damals auch im Auto. Ich erinnere ihn an das Singen und frage Amando, den Lehrer, nach Liedern aus der Schule. Prompt stimmt er ein Lied an: Bruder Jakob auf Kreyol. Bruder Jakob heißt Onkel Bouki, und statt der Glocken soll Bouki aufstehen und die Tambour schlagen. Alle im Auto singen mit, und zwei Minuten lang habe ich Gänsehaut, weil der Gesang unerwartet schön ist. Er gibt mir in dem Augenblick ein ganz intensives Gefühl von Gemeinsamkeit. Für eine kurze Zeit verschwimmen und verschwinden alle kulturellen und sprachlichen Grenzen. Das ist einer der Momente, die Sprit und Wasserdefizite vergessen lassen und die mir bewusst machen, wie schön es ist, wenn von dem, was man gegeben hat, etwas zurückkommt.

Froh bin ich auch, dass wir am Ende alle gut ankommen in Port au Prince. So froh, dass ich vergesse, dass ich für einen Kollegen, der oben geblieben ist, einen Umschlag mit Geld an einen Freund in der Stadt hätte überbringen sollen. Der reist nach Kanada und kann das Geld mitnehmen für die Familie meines Kollegen dort. Geld kann man nicht leicht jemandem anvertrauen. Also muss ich nach 19 Uhr noch einmal los. Ich finde die Adresse und den Freund und bekomme am Ende ein dickes Dankeschön des Kollegen.

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