»Digital first« und »Mobil only«


oder: Die Corona-Welle reiten – Beispiel Schule und Unterricht

Digitalisierung – innovative Überwachungs- und Benotungssysteme – weltweit? (Fotomontage: Sigi Müller)
Ralf Lankau, Offenburg

Viele Akteure in Bildungseinrichtungen erleben gerade ein Déjà-vu. Digitalisten und Daten-Ökonomen nutzen die Corona-Pandemie, um ihre lange bekannten Digitalisierungsstrategien und darauf aufbauende Geschäftsmodelle zu propagieren.

Covid-19, geschlossene Kitas und Schulen und das dadurch notwendig gewordene, flächendeckende Home Schooling sind der aktuelle Anlass, Bekanntes zu preisen: Same procedure as every time. Dabei geht es um mehr als das Etablieren einer technischen Infrastruktur zur automatisierten Beschulung per (Bundes-)Schul-Cloud. Es geht um mehr als die bundesweite Standardisierung digitaler Testumgebungen für die empirische Bildungsforschung. Ziel ist die seit Jahren propagierte Ökonomisierung und Privatisierung auch des deutschen Bildungssektors. Die Praxis zeigt aber: Wir müssen Informationstechnologie (IT), Software und Netzstrukturen neu denken, bevor (!) sie in Schulen zum Einsatz kommen können.

Argumente aus der Mottenkiste

Selbst entschiedene Gegner der Digitalisierung von Schule und Unterricht müssten dank Corona-Krise und geschlossener Schulen jetzt doch endlich das Potenzial von Digitaltechniken zur Beschulung erkennen, heißt es unisono bei den bekannten Anbietern von Cloud-Diensten und Lernplattformen, unterstützt von Vertretern der Presse. Zwar sei die technische Infrastruktur erst im Aufbau und stehe noch nicht flächendeckend zur Verfügung. Selbst da, wo Online-Systeme schon länger im Einsatz seien – wie mit Mebis in Bayern oder (einem schnell aufgesetzten) Moodle in Baden-Württemberg –, reichten die Kapazitäten bei Weitem nicht oder werden gleich von Hackern lahmgelegt. Aber das könne doch nur als Auftrag zu schnellerem Auf- und Ausbau der Netze verstanden werden. Die Schulpflicht bestehe schließlich weiter und zur Überbrückung seien Schulportale doch sinnvoll. Aktuell würden sogar viele der kostenpflichtigen Lernangebote für ein paar Wochen kostenlos zum Testen offeriert. Das sei die Gelegenheit, Online-Angebote auszuprobieren, ihren Nutzen zu erkennen und als Bestandteil von Schule und Unterricht zu etablieren, übrigens nicht nur in Schulen. Der Leiter eines Rechenzentrums einer staatlichen Bildungseinrichtung schwärmt: „Das Schöne an dieser Situation ist, dass es für uns als Hochschule auch eine Riesenchance beim Thema Digitalisierung ist.“ Das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMBF) verschickte am 26. März die dazu passende Pressemitteilung 036/2020: »Entschlossenes Handeln in der Krise! Digitalpakt-Mittel sollen unkompliziert Unterrichtsabsicherung in Corona-Zeiten unterstützen.« 100 Millionen Euro aus dem Digital-Pakt Schule stünden bereit für den schnellen Aufbau der Infrastruktur und die Ausweitung des digitalen Unterrichts.

Die vom BMBF mit 7 Millionen Euro finanzierte und vom Hasso-Plattner-Institut mitentwickelte HPI-Schul-Cloud wird von Frau Karliczek vorübergehend für all die Bundesländer freigeschaltet, die noch keine eigene Cloud-Lösung einsetzen (PM 037/2020). Der IT-Lobbyverband bitkom fordert begleitend eine bundeseinheitliche Lösung und stellt es als Ergebnis einer Schülerbefragung dar (bitkom 2020). HPI-Vorstand Christoph Meinel[2] hatte diese Bundesschul-Cloud bereits 2017 (noch vor der Corona-Krise) in der FAZ als »Vision« vorgestellt: eine bundesweite Cloud, die durch die Einbindung der Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen sogar zu einer Bildungs-Cloud für alle Bürgerinnen und Bürger werden könnte. Das immer wieder bemühte Argument heißt Netzwerkeffekt und bedeutet: Je mehr Daten zentral gesammelt und ausgewertet werden, desto höher die Effizienz der automatisierten Datenverarbeitung (die sog. Künstliche Intelligenz). Nach IT-Systemlogik ist das korrekt. Nur sind Sozialsysteme keine IT-Systeme.

Welchen Nutzen hat die Digitaltechnik?

Ausgeblendet werden alle wissenschaftlichen Studien, die das Versagen von Digitaltechnik in Schulen und Hochschulen seit Jahren belegen (siehe u. a. Lankau 2019).[1] Deren einhelliges Ergebnis: Digitaltechnik generiert weder Nutzen noch Mehrwert. Das heute übliche Hauptargument ist daher »Lebenswirklichkeit der Kinder«. Entscheidend sind bekanntermaßen qualifizierte Lehrkräfte, ein gut strukturierter Unterricht und ein lernförderliches soziales Umfeld. Gerade für sozial Benachteiligte sind Schulen zudem sozialer Schutzraum. 
Egal. Müssen jetzt alle bis zu den Sommerferien digital arbeiten? Dabei können das nur gut strukturierte und disziplinierte Schülerinnen und Schüler alleine. Für die dringend benötigte direkte Rückkopplung müssten Lehrkräfte auf die Rechner der Kinder zugreifen können (Fernzugriff; Remote Access), um nicht nur unterstützen, sondern auch kontrollieren zu können, ob die Kinder am Bildschirm sitzen und die Aufgaben machen oder Geschwister oder Eltern. Das wäre aber Kontrolle vor pädagogischer Unterstützung und ein Widerspruch zum notwendigen Vertrauen, das insbesondere für das sozial isolierte Lernen zwingend ist. 
Egal auch, ob Schülerinnen und Schüler, ob Lehrkräfte und Eltern darauf vorbereitet sind oder nicht. Corona schafft Fakten. Das Thatchersche TINA-Prinzip (There Is No Alternative) wird reanimiert, um gar nicht über Alternativen (analoge Angebote, nichtkommerzielle Lösungen mit Open Source) nachdenken zu müssen.

Ralf Lankau, Offenburg

Zur Person: Ralf Lankau, Jahrgang 1961, ist Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg.


Quellenangaben / Hinweise
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  1. Lankau, Ralf (2019): Digitalisierung als De-Humanisierung von Schulen oder: Vom Unterrichten zum Vermessen. Bildungseinrichtungen unter dem Diktat von Betriebswirtschaft und Datenökonomie. Schriftliche Stellungnahmen zum Expertengespräch und Vortrag in der Kinderkommission des Deutschen Bundestags »Chancen und Risiken des frühen Gebrauchs von digitalen bzw. Bildschirmmedien«, 16. Januar 2019, Berlin; https://futur-iii.de/ 2019/01/16/digitalisierung-als-de-humanisierung-von-schulen/
  2. Meinel, Christoph (2017): Eine Vision für die Zukunft digitaler Bildung, in FAZ v. 25.4.2017; http://plus.faz.net/wirtschaft/2017-04-20/eine-vision-fuer-die-zukunft-digitaler-bildung/ 341612.html; kostenlos unter: https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/christoph-meinel-hpi-vision-zukunft-digitale-bildung(05.1.2019)
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