Eine Schifffahrt mit Braut Michael*

Dieses Jahr führte der Sommerausflug von Zuflucht Oberland e. V. rund zwei Dutzend ukrainische und arabische Frauen an den Ammersee. Leitmotiv für diesen Tag war Annaliese Teetz (1910 – 1992), die erste Kapitänin Deutschlands. In Dießen trafen wir direkt auf eine gut gelaunte Männergruppe, die den Junggesellenabschluss ihres jüngsten Mitgliedes Michael feierte. Die Überfahrt nach Herrsching haben wir zusammen verbracht. Ruckzuck waren mitten im LGBT Thema, da nicht alle Frauen „Michael“ einordnen konnten.

An Land angekommen trennten sich unsere Wege, und wir haben uns eine kleine Bucht mit herrlichem Ausblick gesucht. Eine leichte Brise auf der Haut und das gleichmäßige Rauschen der Wellen im Ohr machte es der Gruppe leicht, sich gedanklich nach Norddeutschland in die 1930er Jahre zu versetzen. In dieser Zeit heuerte Annaliese Teetz sechs Jahre als „Anton“ oder „Jonny“ auf unterschiedlichen Schiffen an, um Erfahrung auf See zu sammeln.
Im Alter von 26 Jahren flog sie an Bord auf und wurde mit Berufsverbot in der Seefahrt belegt. „Unnerröck an Bord, dat gifft Malheur“, so lautete damals der gesellschaftliche Konsens. Annaliese Teetz kehrte als Lehrerin in den Schuldienst zurück und erhielt unter Hitler aufgrund des Mangels an männlichen Arbeitskräften eine Sondergenehmigung für die Prüfung zum ersten Schifffahrtsoffizier, die sie 1942 bestand. Daraufhin fuhr sie drei Jahre lang eigenverantwortlich Frachtschiffe. Nach Kriegesende erhielt sie erneut Berufsverbot zur See und arbeitete wieder als Lehrerin. In dieser Zeit erstritt sie sich die Zulassung zur Kapitänsprüfung, die sie 1955 bestand. Ihre berufliche Gipfelerfahrung machte sie jedoch erst jetzt während ihrer „offiziellen Seefahrt“ bis 1974: Keine Reederei stellte sie als Kapitänin ein, ihre Arbeit an Bord führte sie zeitlebens im Rang eines Offiziers aus. In ihren späteren Jahren engagierte sie sich deshalb stark gewerkschaftlich. Zur Gleichstellung von Männern und Frauen im seemännischen Berufsrecht kam es jedoch erst 1994, zwei Jahre nach ihrem Tod.

Das war starker Tobak, deshalb mussten wir uns erstmal mit Kaffee und Kuchen stärken. Dort fand die Lebensgeschichte von Annaliese Teetz vor allem bei den ukrainischen Frauen Resonanz, da sie in ihrer Heimat aktuell ähnliche Verschiebung von Frauen in sogenannte Männerberufe beobachten. Bleibt zu hoffen, dass die ukrainische Gesellschaft nach dem Krieg das Verhältnis zwischen den Geschlechtern nicht restauriert, wie in den 1950er Jahren in Deutschland.

Zum Abschluss machen wir noch ein Quiz. Die letzte Frage lautet, wie viele von den heutigen rund 1.000 Kapitänen in Deutschland wohl weiblich sind? Was glauben Sie? Nein, 200 sind es nicht, auch nicht 55 oder 20. In der deutschen Seefahrt arbeiten aktuell neun Frauen als Kapitänin. Carola Rackete war eine davon. Im Sommer 2019 hat sie mit der Sea-Watch 3 über 50 Flüchtlinge aus Seenot gerettet und ist „unerlaubt“ im Hafen von Lampedusa vor Anker gegangen. Dem damaligen italienischen Innenminister Salvini ging sie damit laut eigener Aussage „auf die Eier“. Nach dreitägigem Hausarrest wurde sie durch ein Gericht freigesprochen. Der Hauptpreis des Quiz war ein Kaltgetränk, das Michael uns zum Abschied überreichte. Wir wünschen dem Brautpaar alles Gute.

Kerstin Hemme, Vorstand Zuflucht Oberland e. V.

* Name geändert

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