Mein syrisches Tagebuch (2)

Wolfgang Fischer

Wolfgang Fischer

Wenige Monate vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien, im Oktober 2010, habe ich eine dreiwöchige Reise durch einige Landesteile Syriens unternommen, mit Rucksack, öffentlichen Verkehrsmitteln, Notizblock, aber ohne Fotoapparat. Meine Eindrücke habe ich in einem Reisetagebuch festgehalten; ein erster kurzer Auszug daraus war im Oktober-OHA abgedruckt.

Hier also der zweite Teil aus meinem syrischen Tagebuch aus dem Jahre 2010:

2. Oktober: Begegnungen in Aleppo

Es ist – nach vielen unguten Erfahrungen in anderen Ländern – unglaublich, wie unbehelligt ich mich als Tourist in diesem Land bewegen kann: Keinerlei lästige oder aufdringliche »Anmache«, niemand zupft am Ärmel, niemand will einem irgendwelche »echt antike« Schätze verhökern, einen Teppich verkaufen, die Schwester anbieten, illegal Geld wechseln oder einfach nur »guide« sein … Wende ich mich aber Auskunft suchend an einen Passanten, so überschlägt sich der vor lauter Hilfsbereitschaft! Die Verständigung ist zwar in aller Regel schwierig, nur die wenigsten können Englisch oder Französisch, im Lesen eines Lageplans sind die Syrer auch nicht gerade Weltmeister – aber sie sind herzlich und freundlich und immer sind sie bemüht, dem Fragenden eine Antwort zu geben (die sich bisweilen später als falsch herausstellt, vermutlich, weil es in den Augen eines Syrers immer noch besser ist, eine unzutreffende Auskunft zu geben, als gar keine). Als ich in einer überfüllten Bank Geld wechseln möchte und mich hilflos umschaue, komme ich mich einem Mann ins Gespräch, der einmal ein paar Jahre in Dortmund gearbeitet hat und recht gut deutsch spricht. Er nimmt sich viel Zeit für mich, lotst mich an langen Warteschlangen vorbei, redet mit dem Schalterbeamten, lässt sich nicht abwimmeln und ich bekomme meine syrischen Pfund. Herzlich verabschiedet er sich von mir, wie von einem alten Freund. Abends, als ich am Sahat Hatab, dem kleinen Platz in der Nähe meines Hotels einen »sundowner« genieße, kommt plötzlich dieser Mann aus der Bank vorbei, an der Hand seine zwei kleinen Töchter, etwa im Alter von 8 bis 10 Jahren. Eine von ihnen ist behindert. Der Mann zeigt sich ehrlich erfreut, mich wiederzusehen. Ich bin es auch. Die beiden Mädchen geben wohlerzogen die Hand, wir wechseln freundliche Worte, dann muss er weiter, seine Frau wartet. Mit einer Umarmung verabschiedet sich der Mann, wie es üblich ist in diesem Land.  An diese Begegnung muss ich oft denken: Wie schnell kann sich manchmal ein herzlicher Kontakt zwischen Menschen ergeben, die sich völlig fremd waren! Und es fällt mir das Zitat aus dem »Kleinen Prinzen« ein: „Man sieht nur gut mit dem Herzen“. Merkwürdig, dass mir dieses „Sehen mit dem Herzen“ in Deutschland so viel schwerer fällt … Ist es dort überhaupt noch möglich, oder ist die Fähigkeit, das Menschliche im Menschen zu sehen, der ständigen Reizüberflutung, der Hast und Hektik und dem zu bloßer Förmlichkeit erstarrten Höflichsein zum Opfer gefallen?

An diesem Abend am Sahat Hatab-Platz, der mich mit seinem Flair ein wenig an Montmartre oder auch Alt-Schwabing erinnert, wird mir bewusst, dass Aleppo auch heute noch eine Schnittstelle ist zwischen Tradition und Moderne, zwischen Okzident und Orient, zwischen verschiedenen Kulturen. Sitzen um mich herum doch ganz unterschiedliche Menschen: Das syrische Paar mittleren Alters, mit dem ich mich französisch unterhalten kann, er trinkt (in aller Öffentlichkeit!) ein Bier, sie telefoniert mit ihrem Mobiltelefon. Dann sind da zwei junge Frauen, beide tragen Kopftuch – und rauchen, sich lebhaft unterhaltend, Wasserpfeife (auch das in aller Öffentlichkeit!). Und dann ist da eine westlich gekleidete, offenbar gut betuchte Dame, die – einen Hund (!!!) an der Leine – mit einem Begleiter am Nebentisch Platz nimmt. Das ist etwas Unerhörtes, denn für einen Muslim ist der Hund, neben dem Schwein, ja ein unreines Tier, dessen Nähe der Mensch meidet. Der Hund und seine Herrin erregen denn auch große Aufmerksamkeit, die Buben, die in der Mitte des Platzes Fußball gespielt haben, unterbrechen ihr Spiel und stehen bald belustigt tuschelnd und gleichzeitig ungläubig staunend in einiger Entfernung um den Tisch, an dem sich Hund und Mensch niedergelassen haben. Auch die Passanten, die vorbeikommen, werfen verstohlene Blicke auf den Hund, der es sich unter dem Stuhl seiner Herrin gemütlich gemacht hat. Da fällt mir das Kapitel »Ich, der Hund« in Orhan Pamuks Roman »Rot ist mein Name« ein, das die Existenz der Gattung Hund aus der Sicht eines Hundes in Istanbul mit umwerfender Komik beschrieben hat. Und es fällt mir zum ersten Mal auf, dass ich seit meiner Abreise aus Deutschland vor 14 Tagen nicht einen einzigen Hund zu Gesicht bekommen habe, bis heute Abend.

Wenn ich diese Beobachtungen Revue passieren lasse, so bin ich einigermaßen verwirrt. Was ich sah, entspricht so gar nicht dem Klischee vom »bösen Islam«, vom »Ort der Finsternis«, »der Achse des Bösen«, die Syrien doch – wenn man Psychopathen wie Ronald Reagan, George W. Bush oder Herrn Sarrazin glauben will – sein soll. Nun könnte man mir entgegnen, Syrien und vor allem Aleppo seien ja nicht »typisch«! Aber warum soll immer nur »typisch« sein, was dem Vorurteil entspricht? Könnte man nicht auch argumentieren, dass Aleppo »typisch« ist für die kulturelle und religiöse Toleranz, die eben auch oft anzutreffen ist in den Ländern des Vorderen Orients?

 

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